Schlagwort-Archive: Civic Tech

Verantwortung internalisieren, Software verstehen, Nachtrag 2: A Tale of Two Haushaltstoepfe

John McGehjee, Bank of the West Los Altos branch vault, CC0 1.0

Ich sass heute Vormittag in einem Forschungsinterview, in dem der Interviewer eher beilaeufig einen Satz fallen liess, der mich nun den ganzen Tag nicht mehr losgelassen hat.

Eigentlich sprachen wir ueber die Mobility Data Specification, die sich einige US-Staedte ausgedacht hatten, um Shared-Mobility-Anbieter datengetrieben regulieren und steuern zu koennen. In den USA ist die relativ weit verbreitet, und die Staedte oder regionale Zusammenschluesse wie SANDAG betreiben auch die dafuer notwendige Infrastruktur selber, um beispielsweise die gewuenschten Geschaeftsgebiete, Ausschlusszonen etc. maschinenlesbar auszuliefern und die geforderten Statistikdaten entgegennehmen und in die Stadtplanung einfliessen zu lassen. In Europa hingegen erfaehrt das bislang nur eine sehr bruchstueckhafte Nutzung. Ich kenne derzeit keine Stadt in Deutschland, die die Daten bislang wirklich direkt in den Planungsprozess einbezieht – und sei es, indem sie einen der mittlerweile vorhandenen Dienstleister als Datenclearingstelle nutzen.

Der Interviewer kommt selbst aus dem Open-Transport-Feld und hat lange Jahre Erfahrung im ODIN-Netzwerk gesammelt (witzigerweise hatte ich noch einige Mails von ihm aus der OKF-Transport-Mailingliste von 2012 im Mailarchiv). Irgendwann meinte er: Die US-Staedte koennen vieles vielleicht deswegen besser selber intern loesen, weil die ja nicht so viel Geld haben, im Vergleich.

Das rumort jetzt eine Weile in mir, weil es ja intuitiv widerspruechlich erscheint, aber das Problem sehr sehr praegnant auf den Punkt bringt. Wenn die US-Kommunen weniger gut finanziell ausgestattet sind (was ich nicht geprueft habe, stellen wir es mal als These hin), muessen sie viel mehr auf eigene Kompetenzen setzen und diese strategisch gut aufbauen, um Digitalloesungen auch sinnvoll zum Fliegen zu bekommen.

Lilith Wittmann hatte heute einen von ihr fuer das ddb-Magazin geschriebenen Gastbeitrag (Ausgabe 12/2021, Seite 18) vertwittert, in dem sie nochmal sehr treffend den normalen Umgang deutscher Verwaltungen mit diesem Themenfeld beschreibt. Auszug:

Dieser verhängnisvollen Allianz zugrunde liegt der politische Irr­weg, Digitalisierung eben genau nicht als den Kulturwandel zu be­greifen, der erforderlich ist, um sie in der Verwaltung erfolgreich umzusetzen. Stattdessen wird der moderne Staat weiter als „Pro­jekt“ angegangen: Es werden keine neuen Stellen für Menschen mit IT­-Know­how geschaffen, son­dern Millionen für externe Projekt­unterstützung ausgegeben. Die Leitung von Digitalprojekten geht regelmäßig an eine Referatslei­tung, die schon andere Projekte erfolgreich durchgeführt hat – wer Förderleitlinien schreiben kann oder mal Pressesprecher war, der bekommt dieses Digitalisierungs­ding doch bestimmt auch hin.

Was aber sollen nun Menschen ohne Vorerfahrung mit solch hochkomplexen und technisch anspruchsvollen Themen in so einer Projektsituation anderes ma­chen als sich externe Hilfe zu holen? Also fragt man zum Beispiel Capgemini an – für Konzept und Ausschreibung. Und wenn sie schon mal dabei sind, können sie direkt die Projektsteuerung mit­ machen. Capgemini hat für die technische Umsetzung gute Erfahrungen mit IBM. Also holt man die dafür ins Boot. Und PwC übernimmt die Rechtsberatung – hat man ja schon immer so ge­macht.

Ausreichend viele faehige Menschen mit Wissen um IT-Architekturen einzustellen, scheitert derweil viel zu oft am immer selben Endgegner: Dem Stellenplan. Die bisherige IT ist schon vollauf damit beschaeftigt, die historisch gewachsenen Systeme zu baendigen und halbwegs rechtzeitig auf CVEs in der Firewall oder dem Exchange-Server zu reagieren. Und fuer weitere, gut qualifizierte und entsprechend im Wettbewerb nur mit entsprechender Besoldung zu haltende Kraefte gibt’s keine Stelle im Stellenplan, und vor allem kein Geld.

Macht aber nix, weil es ja genuegend Fuellhoerner fuer Leuchtturmprojekte und Vorzeigedigitalisierung gibt, aus denen dann die notwendigen Sachmittel fuer externe BeraterInnen fallen. Und das Externalisierungskarussell dreht sich eine Runde weiter.

Das ist ein wenig wie das alte Klischee vom oeffentlichen Bau, bei dem man an der Daemmung gespart hat und man eigentlich direkt zum Fenster hinausheizt: Im Finanzhaushalt (fuer Investitionen) haetten die besseren Fenster zu viel mehr gekostet. Und dass man das in 10 Jahren bei den Heizkosten wieder drin haette und die darauf folgenden 20 Jahre viel einsparen wuerde, betrifft ja nur den Ergebnishaushalt fuer die laufenden Betriebskosten.

Verantwortung internalisieren, Software verstehen, Nachtrag 1

Im Maerz 2020 warb ich hier dafuer, dass die oeffentliche Hand Kompetenzen aufbauen muesse, um Software auch verstehen zu koennen. Das heisst unter anderem auch Abhaengigkeiten verstehen, Sicherheitsparadigmen, und sei es im Zweifel nur, um passende Auftraggeberkompetenzen zu haben.

Nachdem die geschaetzten Wesen des IT-Sicherheitskollektivs Zerforschung neulich die Hausaufgaben-Verkaufs-App learnuu zerlegt hatten, gab es im Anschluss einen Twitter-Space mit ueber 200 Menschen, in dem die Geschichte noch einmal erzaehlt und das interessierte Fachpublikum Fragen stellen konnte. Zwei Dinge wollte ich dazu gerne kurz festhalten, nachdem mir eben ein Twitter-Thread dazu ueber den Weg lief.

Die Zivilgesellschaft muss es richten

Zum Einen: Ich finde die Leistung von Zerforschung – und auch all der anderen, die irgendwelchen Startups hinterherkehren – sehr beachtenswert, und zwar in mehreren Dimensionen. Man muss sich das einmal vorstellen: Da sitzen ein paar junge Leute im Pandemiefrust ueber Deutschland verteilt zusammen, verbunden durch Messenger-Chatgruppe und BBB-Videocalls. Und waehrend sie eigentlich mal LED-Lampen aus Fernost zerforschen wollten, stolpern sie nun seit Monaten immer wieder gegen irgendwelche Testzentren oder sonstige IT-Infrastruktur, und aus einer Mischung aus Neugier, dem Wissen um die richtigen Werkzeuge, Schabernack und Koffein entdecken sie dabei eine broeselige Infrastruktur hinter der schicken Fassade nach der anderen. Upsi!

Die ganz andere Dimension ist aber, wenn man sich bewusst macht, wer solche Probleme denn sonst aufdecken wuerde. Derzeit basiert die Ueberpruefung irgendwelcher deutscher IT in der Wildbahn – egal ob privatwirtschaftlich auf den Markt gebracht oder von der oeffentlichen Hand beauftragt – in einer beachtlichen/bedenklichen Anzahl der Faelle darauf, dass spassorientierte Menschen auf Mate damit an einem langsamen Samstagabend in Quarantäne Karussell zu fahren versuchen. Die zustaendigen Behoerden werden meist nur reaktiv – also auf Beschwerden hin – taetig, und das BSI leidet seit Jahren unter dem Schatten, keine unabhaengige Einrichtung sondern nachgeordnete Behoerde des Innenministeriums zu sein.

Egal ob Testzentrum oder Hausaufgaben-Vercheck-App: es scheint also tatsaechlich vielfach daran zu liegen oder zu scheitern, dass zivilgesellschaftliche Akteure genuegend Kentnnisse und Freizeit haben, solche Tests zu machen. Das muss man einfach mal sacken lassen.

Zertifikate vom IT-Planungsrat?

Die andere Sache fiel mir aber auf, als im Twitter Space ueber moegliche Zertifizierung von Software diskutiert wurde, und wie/ob man IT irgendwie pruefen lassen sollte. Weil, so schick und gut ich es faende, wenn Sicherheitstests (vor allem dann, wenn schon einmal schief anschauen reicht) nicht von Menschen in ihrer Freizeit abhaengen wuerden: Ich fuerchte mich ein wenig vor einer Welt, in der solche Zertifikate zu aehnlich religioesen Ersatzhandlungen verkommen wuerden wie die Aufstellung eines Verfahrensverzeichnisses um das passende Haekchen wegen der DSGVO machen zu koennen. Oder in der dieselben Menschen definieren, was „sicher“ ist, die sich den ganzen Prozess rund ums OZG ausgedacht haben.

Denn, auch die oeffentliche Hand, auf allen foederalen Ebenen, beschafft oder finanziert Software. Bisweilen auch mal, um den Eindruck zu erwecken, man taete ja etwas, beispielsweise in einer Pandemie. Und selbst wenn man ein erweitertes Set als die bisherigen Pruefschablonen haette, muesste man diese auch anzuwenden und zu interpretieren verstehen. In der Realitaet muss man lange suchen, dass die oeffentliche Hand bei der Begutachtung von Software die richtigen Fragen stellt – oder andersherum, dass an den entscheidenden Ebenen Input wie der von Zerforschung auch geparst werden koennte.

Mehr Fragen als Antworten

Im Wikimania-Vortrag “Wikimedia Movement and the Paradox of Open” (via @kommunikonautin) nannte einer der Vortragenden die ehrenamtliche Arbeit an Wikipedia und Freiem Wissen eine burgeoise Art des Aktivismus: Einer Wissens- und Zeitelite deutlich zugaenglicher als dem Rest der Menschheit. Dasselbe gilt fuer all die anderen Freizeit-nebenher-Aktivitaeten, egal ob Sicherheitsforschung, Arbeit an Freier/Open-Source-Software, Lobbyarbeit dafuer oder die Geschichten einzusammeln, die ausserhalb der unmittelbaren eigenen Blase in diesen Themen passieren.

Dependency von Randall Munroe, CC BY-NC 2.5

Mit Verweis auf XKCD 2347 (oben) gibt es beispielsweise in der Freien-Software-Welt ueber die Jahre hinweg immer mehr Stimmen, die die oeffentliche Foerderung solcher Softwareprojekte fordern. Das finde ich prinzipiell gut, nur: Was hiesse das, konsequent zu Ende gedacht? Sollte dann nicht auch Drive-by-Gegentreten gegen marode Apps gefoerdert werden? Oder Beitragen zu Wikipedia? Oder zu Wikidata, als Basis aller moeglicher kommerzieller Sprachassistenten? Und, falls ja: Wie? Mit Marktmechanismen? Und im Vertrauen bei der Vergabe der Mittel auf genau die Politik und Verwaltung, die einen all die Jahre nie so wirklich verstanden zu haben scheint, was aber egal ist, Hauptsache ein bissel Foerderung verteilt?

Und – daraus kam der Querverweis zum urspruenglichen Artikel, und daran haengen z.B. solche Foerderentscheidungen – wie zum Teufel bekommen wir denn nach ueber einem Jahrzehnt Civic Tech in Deutschland die Behoerden und politischen Apparate selber auf den notwendigen Stand?

Ich bin ratloser denn je.

Buchempfehlung: A Civic Technologist’s Practice Guide, von Cyd Harrell

Die Civic-Tech-„Bewegung“ – so man ueberhaupt von einer sprechen kann, so vielfaeltig wie die Stroemungen sind – kommt langsam ins Pubertaetsalter. Um so ueberraschender, dass Buecher aus der Praxis wie der “Civic Technologist’s Practice Guide“ von Cyd Harrell immer noch so selten sind. Klar, in den ueblichen Fachbuchverlagen gibt es ganze Regalmeter voll mehr oder eher weniger nuetzlicher Handreichungen zu „Digitaler Transformation“, irgendwas mit Agil, oder Smart-City-Esoterik.

Harrell kann in ihrem Buch mit Stand 2020 aus acht Jahren eigener Praxiserfahrung im Maschinenraum berichten. Sie ist UX-Designerin und begann 2012 erst fuer das Center for Civic Design und danach das damals noch recht neu gegruendete Code for America zu arbeiten, bevor es sie zu 18F verschlug.

Max hat ein physisches Exemplar des Buchs gekauft, das gerade in meinem Umfeld die Runde macht, und nach meinem zweiten Durchlauf ist es gespickt mit Klebezetteln und Annotationen. Nicht etwa, weil man Dinge der Verstaendlichkeit halber annotieren muesste, im Gegenteil, die Sprache im Buch finde ich gut verstaendlich und nachvollziehbar. Ich hatte aber quasi alle drei Seiten einen „Ja, das ist gut umrissen und zusammengefasst, merken!“-Moment.

Egal ob es die Frage ist, was Civic Tech eigentlich alles ist (ehrenamtliches Engagement, externe Unterstuetzung und Beratung der oeffentlichen Hand, interner Kompetenzaufbau in der Verwaltung – ja, alles davon), oder dass sowohl das „zeigen was geht“ als auch das „umsetzen, was es dafuer braucht“ gleichermassen zum Spiel gehoert. Viele in der Szene duerften schon laengst selbst zu diesen Erkenntnissen gekommen sein, zusammengefasst in einem Buechlein sind sie aber praktisch und gut weiterzugeben.

Der Blick auf die Erfahrungen in den USA lohnt sich ohnehin. Den Versuch, Fellows in die Verwaltung zu schicken, gab es dort bereits vor 10 Jahren(!), und auch viele andere Dinge, bei denen man aus den Erfahrungen von anderswo haette lernen koennen, wurden einfach in Deutschland nochmal neu von vorne gemacht.
Erst durch das Buch lernte ich aber, dass in den USA bereits 2014 ein bekannter Venture Capitalist in die US-Civic-Tech-Szene einstieg und bereits laufende Programme einfach nochmal fuer sich neu erfand:

[It] took the civic tech community by surprise, but gained enormous mainstream press attention. It eventually disappeared […] without causing any significant change in the civic sphere, but it sufficiently distracted attention from the other groups working in the same space.

Ich hatte das Buch dann kurz weggelegt, aus dem Fenster geschaut und an hiesige „Social Entrepreneurs“ und Versprechen eines deutschen 18F gedacht und das war ein interessantes Emotiotop.

Im spaeteren Verlauf geht es dann aber auch wirklich ans Eingemachte, wenn man wirklich Dinge modernisieren will in einer Verwaltung und wie das ueberhaupt gehen soll, und hier zeigt sich der Kontrast zu ueblichen „ja da machen wir halt bissel was mit agil“-Simulationen. Laeuft das Schwarzbrotgeschaeft als Unterbau ueberhaupt rund, wer operationalisiert spaeter die schoenen Prototoypen, sind genuegend Ressourcen da, um Legacy-Systeme zu analysieren und sie falls noetig auch aendern zu koennen.
Ueberhaupt, wie wird das Verwaltungssystem langfristig befaehigt, selbstaendig in die Zukunft blicken und die naechste oder gar uebernaechste technologische oder infrastrukturelle Huerde zu nehmen, ohne sich dabei aufs Gesicht zu legen und das womoeglich noch als Erfolg zu verkaufen? (Das mit dem selbstaendig Huerden meistern waere nebenbei die erste Definition einer „Souveraenitaet“, die ich tatsaechlich sinnvoll faende)

An manchen Stellen musste ich schwer seufzen. Fuer Harrell ist es denk- und fragbar, ob eine Verwaltungseinheit selber Dienste in der Produktion faehrt. Dass es Test- und Releaseprozesse fuer Software und Dienste gibt. Umfassendes Monitoring von Verfuegbarkeit und Erfolg. Ich wuenschte, dass man die in deutschen Verwaltungen ueberhaupt als Teil strategischer Aufstellung verstuende.

Und deswegen schliesst das Buch mit einem eigenen Kapitel ueber seelisches Wohlbefinden. Dass es dessen bedarf, hat eine ganz eigene Note. Dass es Teil des Buchs ist, spricht fuer Harrell.

Das Buch ist als Kindle- und EPUB-Format fuer knapp 10 Dollar zu haben, oder fuer rund 20 Euro als Taschenbuch. Ich moechte es sehr empfehlen.

Das graue Rhinozerus der oeffentlichen IT-Infrastruktur

Die letzten zwei Wochen waren rasant. Was ich hier aufzuschreiben versuche, gehoert ganz klar in die „unsortierte Gedanken“-Kategorie, die hier augenzwinkernd im Titel steht. Das ist nicht reif. Das ist einfach dahingeschrieben, Status jetzt. Und mit einer gehoerigen Portion Wut im Bauch geschrieben.

Die IT-Infrastruktur der oeffentlichen Hand ist eine Shitshow. Das ist nichts neues. Wer auch nur ein wenig Zeit damit verbracht hat, sich damit zu beschaeftigen und die notwendige Fachkompetenz mitbringt, wird dem zustimmen. Oder ist BeraterIn, und macht jede Menge Geld damit, das naechste Leuchtturmprojekt zu verkaufen – natuerlich nicht auf andere Einsatzorte transferierbar, nicht nachhaltig, Hauptsache Powerpoint. Die Gruende dafuer sind vielfach hier und an vielen anderen Orten beschrieben, und ich habe nicht einmal Lust, die passenden, teilweise Jahre alten Texte dazu zu verlinken. Ich dachte lange Zeit, das liesse sich durch „Kill them by friendliness“ und Umarmung loesen. (Danke an der Stelle an meinen guten Freund S. fuer die jahrelange Motivation, nicht in noch mehr Zynismus abzugleiten. Bei ihm funktionierte seine Methode innerhalb seiner oeffentlich-rechtlichen Struktur, und ich bin ein wenig neidisch).

Covid-19 bringt derzeit viele Dinge ans Tageslicht, die bislang implizit irgendwie dahinschmorten. Es steht die Frage im Raum, wie Verwaltungen ihre Kernaufgaben wahrnehmen koennen, auch dann, wenn zur Sicherheit der Allgemeinheit Menschen aus der Verwaltung von zuhause aus arbeiten sollen. Und vielleicht bekomme ich nur einseitig Informationen, oder ich bekomme Erfahrungsberichte nur von Staedten, in denen es strukturell schon viel zu lange brennt, aber die Antworten bleiben bislang aus.

Es geht hier um strukturelle Defizite der oeffentlichen Hand, die lange Zeit gerade mal Feuerwehr spielen konnte, wenn es irgendwo im eigenen Haus brennt. Nicht selten waren die IT-affinen Kraefte die einzigen, die (um in der Metapher zu bleiben) ueberhaupt eine Rauchentwicklung wahrnehmen konnten – was zur Folge hatte, das sie gar nicht das notwendige Loeschwasser bekommen haben, um abwehrenden Brandschutz zu betreiben. Und da sind wir noch nicht einmal bei der Praevention und der Luft zum Atmen, um die Situation strukturell zu verbessern. Wir haben den Zustand, dass im metaphorischen Gebaeude der Verwaltung im Treppenhaus offene Reifenfeuer aufrechterhalten werden, um die Bude zu heizen – und keiner stoert sich daran. Ich war vor gut zwei Jahren Teil des kommunalen Fachpublikums bei einem Vortrag, wie die Verwaltungs-IT einer nicht genannten Kommune (nein, nicht meine) mit Kryptotrojanern umgehen moechte. Und die geplanten Massnahmen waren – und das ist kein Witz – die Vorbereitung von Alarmfax-Boegen, und der Austausch der Netzwerkkabel durch rote Kabel, um diese nach Ausloesung der Kryptotrojaneralarms (per Fax, klar) aus der Wand ziehen zu koennen.

Das ist der Status Quo.

Und jetzt haben wir unseren Black Swan, der vielleicht eher ein Gray Rhino ist.

Zur Erklaerung. Ein Black-Swan-Event ist ein Ereignis, das sich durch folgende drei Kriterien auszeichnet, copy und paste aus Wikipedia:

1) The event is a surprise (to the observer).

2) The event has a major effect.

3) After the first recorded instance of the event, it is rationalized by hindsight, as if it could have been expected; that is, the relevant data were available but unaccounted for in risk mitigation programs. The same is true for the personal perception by individuals.

https://en.wikipedia.org/wiki/Black_swan_theory#Identifying, CC BY-SA

Die Black-Swan-Theorie wurde 2013 von Michele Wucker durch die Gray-Rhino-Theorie ergaenzt. Gray-Rhino-Faelle sind durchaus realistisch und ihr Eintreten wahrscheinlich, ihr Einfluss ist betraechtlich, aber dennoch werden die mit ihnen verbundenen Folgen systematisch kleingeredet. Eine Uebersicht habe ich in diesem Post gefunden – auch wenn ich das Wording etwas problematisch finde, ich habe leider nichts besseres auf die Schnelle gefunden.

Das graue Rhinozeros, ueber das wir hier sprechen, sind die systematischen Folgen einer ueber Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, vernachlaessigten IT-Infrastruktur aus oeffentlicher Hand. Wenn wir als Gesellschaft laut fragen, warum das RKI die letzten Wochen lang die Meldungen der Gesundheitsaemter haendisch in Excel-Listen gepflegt hat: Das ist das Resultat eines Gray Rhino. Wenn wir uns fragen, ob und wie Kommunen in der Lage sind, auch dann handlungsfaehig zu bleiben, wenn die Beschaeftigten mobil arbeiten: Das ist das Resultat eines Gray Rhino.

Mobil arbeiten ist derweil keine Statusfrage. Viel zu lange wurden Laptops und Smartphones im oeffentlichen Dienst quasi als Perks fuer Fuehrungs- und sonst irgendwie herausragende Kraefte verstanden. Es geht aber darum, auch in aussergewoehnlichen Lagen die Grundfunktionalitaeten der Verwaltung aufrecht zu erhalten. Kann eine Kasse keine Zahlungen mehr anweisen, trifft das im schlimmsten Fall sehr vulnerable Bevoelkerungsgruppen. Es geht nicht darum, ob die Arbeitsgruppe Trullala den Fuehrungskraefteaustausch jetzt auch remote durchfuehren kann. Sondern darum, ob Bafoeg-EmpfaengerInnen Geld aufs Konto bekommen, um ihre Miete zu bezahlen. Oder Menschen, die Wohngeld bekommen. Spielt die Szenarien gerne weiter durch. Wir haben das im eigenen Beritt vor zwei Wochen gemacht.

Was jetzt abzusehen ist: Die kommunalen Haushalte werden leiden. Die notwendigen Massnahmen zur Eindaemmung der Pandemie werden das Gewerbesteueraufkommen der Kommunen – und das ist ihre wesentliche Einnahmequelle – treffen. Auch Staedte, die bislang gut dastanden, werden knapper wirtschaften muessen.

Und jetzt sind wir wieder bei der Rauchwahrnehmung des Reifenfeuers.

Wenn die Konsequenz ist, dringend notwendige Investitionen in die Verwaltungs-IT nicht vorzunehmen. Wenn die Konsequenz ist, rundum den Guertel enger zu schnallen und eine funktionierende Infrastruktur irgendwie als eh-da zu betrachten. Wenn die derzeitige Offenlegung systematischer Defizite nicht Anlass ist, massiv Versaeumnisse der vergangenen Jahre nachzuholen, sondern allenfalls der metaphorischen IT-Feuerwehr endlich mal ein bissel Wasser nachzufuellen, um die allerallerschlimmsten Braende zu loeschen. Dann haben wir ein Problem. Das Shitrix-Desaster hat gezeigt, dass selbst fuer die Reaktion auf oeffentlich angekuendigte Sicherheitsluecken vielerorts keine Luft ist. Dass Verwaltungs-IT von Ereignissen getrieben ist, und aufgrund ihrer Besoldungsstruktur im Zweifelsfall vielerorts nur solche Leute in verantwortungsvolle Positionen bekommt, fuer die Alarmfaxe und rote Netzwerkkabel als zeitgemaesse Loesung angemessen scheint. Jetzt hier Abstriche zu machen und die offenkundig werdenden Defizite nicht als laut schreiendes Warnsignal zu verstehen, dass wir es mit dem Aequivalent zu jahrelang vermodernder Infrastruktur analog zu Bruecken zu tun haben, und als Reaktion nicht alle gebotenen Mittel aufzuwenden, den Betrieb nachhaltig zu sichern ist grob fahrlaessig. Jetzt kurzfristig einzusparen, wird sich auf Jahre hinweg raechen.

Der naechste Black Swan, ach was, das naechste Graue Rhinozeros wird kommen. Wer jetzt nicht umgehend handelt, muss sich persoenlich die Konsequenzen zuschreiben lassen. Wer jetzt nicht trotz zu erwartender knapperer Kassen nicht in Infrastruktur investiert, laesst wider besseren Wissens notwendige Bruecken in sich zusammenfallen. Bis sie nicht mehr passierbar sind. Und steht bei der naechsten kritischen Situation mit weit heruntergelassenen Hosen da. Das sollten wir alle klarstellen. Und die Verantwortung dafuer klar personell benennen.

Linksammlung, Civic-Tech- und Retrofuturismus-Ausgabe

Einige Links, die seit einer Weile bei mir offene Tabs belegen und die ich fuer die Nachwelt erhalten moechte:

Why Futurism Has a Cultural Blindspot. We predicted cell phones, but not women in the workplace.

Christian Foerster vom Verkehrsministerium Baden-Wuerttemberg erzaehlt gerne, dass wir in der Zukunftsvision des automatisierten Fahrens eigentlich Retrofuturismus betreiben: Quasi-Raketen-Autos, in denen wir je nach Praegungsjahr dieser vermeintlichen Utopie wahlweise Zeitung lesen – oder arbeiten:

Transportation seems to be a particular poster child of fevered futurist speculation, bearing a disproportionate load of this deferred wish fulfillment (perhaps because we simply find daily travel painful, reminding us of its shared root with the word “travail”). The lament for the perpetually forestalled flying car focuses around childlike wishes (why can’t I have this now?), and ignores massive externalities like aerial traffic jams, and fatality rates likely to be higher than terrestrial driving.

Quintessenz: Wir schreiben einfach unser beschraenktes Weltbild von heute fort – und sehen gar nicht das, was sich tatsaechlich umwaelzen wird.

(Passend dazu auch der oeffentlich-rechtliche Ausblick auf das Jahr 2000 ganz oben)

Don’t Be Evil. Fred Turner on Utopias, Frontiers, and Brogrammers. Ein wunderschoener Text, den man gerne lesen darf, waehrend man den aktuellsten heissen Scheiss des Innovationstheater-Hypes im Hinterkopf hat. Beispielsweise Blockchain:

Any utopianism tends to be a totalizing system. It promises a total solution to problems that are always piecemeal. So the problem from my perspective isn’t the technological part of technological utopianism but the utopianism part.

Any whole-system approach doesn’t work. What I would recommend is not that we abandon technology, but that we deal with it as an integrated part of our world, and that we engage it the same way that we engage the highway system, the architecture that supports our buildings, or the way we organize hospitals.

The technologies that we’ve developed are infrastructures. We don’t have a language yet for infrastructure as politics. And enough magic still clings to the devices that people are very reluctant to start thinking about them as ordinary as tarmac.

But we need to start thinking about them as ordinary as tarmac. And we need to develop institutional settings for thinking about how we want to make our traffic laws. To the extent that technologies enable new collaborations and new communities, more power to them. But let’s be thoughtful about how they function.

Bürger bauen Technik – Civic-Tech-Herausforderungen in Deutschland.

Passend dazu eine umfangreichere Abhandlung zur Frage, wie wir nicht notwendigerweise Innovation, aber eben Loesungen durch und mit Civic Tech und digitalem Ehrenamt erzielen. Schlusssatz:

Ziel ist die Selbstbefähigung von Bürgern innerhalb der Zusammenhänge, die sie bereits jetzt und noch viel stärker in Zukunft massiv beeinflussen werden: die der digitalen Technologien und der dahinter liegenden Machtstrukturen. Das mag sich alles etwas anstrengend anhören – aber ehrlich gesagt macht es doch sehr viel Spaß! 🙂

Zum Weiterlesen empfehle ich das Paper von Laurenellen McCann, die ihre Arbeit zur Schaffung von bedarfs-  und gemeinwohlorientierten (Bürger-) Technologien hier dokumentiert: -> Experimental Modes of Civic Engagement in Civic Tech (PDF).

wasfehlt: Gruendungsberatung fuer Civic-Tech-Projekte

Dieser Tage ging mein Blogpost wieder rum, in dem ich Hackathons als langsam etwas abgedroschenes Standardformat fuer Open Data und Civic Tech betrachtet und gefragt habe, wie sich die Community nachhaltiger foerdern liesse.

Tatsaechlich gibt es mittlerweile schon einige Ansaetze, wie auch die vielen ehrenamtlichen Gruppen gefoerdert werden koennen, und nicht nur die Fraunhofers und sonstigen etwas verstaubten grossen Player. Der Prototype Fund der OKF DE ist ein Beispiel, und dass die Stadt Ulm der Civic-Tech-Community ein ganzes Haus samt Ausstattung zur Verfuegung stellt, findet hoffentlich bald Nachahmung in anderen Staedten.

Eine Sache fehlt aber nach wie vor ganz gewaltig, und das ist Beratung. Auch als Bruecke, um die vielen Ideen, die in den OK Labs und anderen Initiativen entstehen, ueberhaupt erst in einen Zustand zu versetzen, um sich beispielsweise fuer den Prototype Fund bewerben zu koennen.

Startup- vs. Gemeinwohlberatung

Es ist ja eigentlich eine Crux: Wer heutzutage ein Startup gruenden und VC-Gelder verbrennen moechte, findet an jeder Ecke institutionalisierte Beratung. Gruenderzentren, IHK und Co. pruegeln sich geradezu, wer denn nun kompetenter beraten kann, Literatur gibts zuhauf, und wenn die politischen Signale guenstig stehen, fliessen auch die Foerdertoepfe grosszuegig.

Fuer Civic-Tech-Projekte – insbesondere diejenigen, aus denen sich kein Geschaeftsmodell entwickeln laesst, sondern deren Gemeinnuetzigkeit dem entgegensteht – sieht die Lage mau aus. Das klang neulich schon an, als ich nach Alternativen zu den von unbedachten Hackathon-Veranstaltern oft ausgelobten grossen Barpreisen fragte:

Was auffaellt: Viele der Vorschlaege drehen sich um Mentorierung und Folgefinanzierung – der Rest um die schon im Dezember angesprochenen Huerdensenker wie Reisekosten etc.

Weil

Das da oben habe ich mittlerwiele zigmal gehoert.

Jedes Mal in einer Runde mit faehigen Leuten[1], die die Idee garantiert umsetzen koennten. Und fuer die der Schritt aber gefuehlt zu gewagt ist, ihre (in der Regel) Festanstellung zu reduzieren und nebenher finanziert aus $Foerdertopf dieses Projekt voranzubringen. Oder es laeuft noch viel banaler, und die oertliche Civic-Tech-Gruppe bekommt von Lokalpolitikern eingefluestert, dass man sie schon laengst in einem Foerderprogramm untergebracht haette, wenn sie nur endlich mal einen gemeinnuetzigen Verein gegruendet haetten.

Diese Kluft haette ich gerne ueberbrueckt. Damit nicht nur Vereinsprofis und die jetzt schon freiberuflich arbeitenden Softwareentwickler*innen eine Chance auf Foerderung haben, sondern auch moeglichst viele andere.

Auf dass es bald in jedem OK Lab heissen kann:

Wiederkehrender Dialog:
„Ja ey, [XYZ] bräuchte es!“
„Ja, und das wuerde sogar zu [Foerdertopf] passen“
„Hm“
„Ich frag mal die Civic-Tech-Sprechstunde“
„Jo“

[1] Meine Definition in diesem Kontext: Leute, die etwa tausendfach besser Software entwickeln koennen als ich. Das fuehrt unweigerlich dazu, dass ich von enorm vielen faehigen Leuten umgeben bin.

Lieber Clever als Smart: Civic Tech fuer Menschen

Drei (plus x) Lese- und Ansehempfehlungen, die mir gestern nach und nach in den Twitterfeed gepurzelt sind und ebenfalls zur Frage passen, wie Civic Tech weitergesponnen werden kann.

Erstens das Boston Smart City Playbook, das schon gleich mit einem Kracher anfaengt:

The age of the “Smart City” is upon us!

It’s just that, we don’t really know what that means. Or, at least, not yet.

So far, every “Smart City” pilot project that we’ve undertaken here in Boston has ended with a glossy presentation, and a collective shrug. Nobody’s really known what to do next, or how the technology and data might lead to new or improved services.

Es folgt ein Rant ueber Vertriebsdrohnen von „Smart City“-Verkaufsbueros, eine Rueckbesinnung auf die Menschen, um die’s gehen soll, dass es nicht noch eine Plattform braucht (!!! zefix!!!), und dass im Zweifel eine „Clevere“ Stadt besser ist als eine „Smarte“: Mit einem Prototypen, einer intelligenten Strassenlaterne. Kleinen Spielplaetzen, die spaeter vielleicht hochskaliert werden, wenn sie sich bewaehren. Anstelle von Alles-oder-nichts-Megaprojekten.

Zweitens The Engine Room’s Advent Calendar mit einem Lesetipp fuer jeden Tag. Beispielsweise, dass „Startup-Kultur“ eine denkbar depperte Denkweise und Rahmenbedingung fuer gesellschaftsveraendernde Projekte ist. Dass „Innovation“ vollkommen ueberbewertet ist und „Wartung und Unterhalt“ eigentlich die wichtigeren Buzzwords sein sollten. Oder dass im Westen nach wie vor nicht-wohlhabende nicht-weisse Nicht-Akademikerinnen (hier: spezifisches Femininum) vergleichsweise wenig von Civic Tech haben.

Um Ausschluesse geht es – drittens – auch in Programming is Forgetting: Towards a New Hacker Ethic. Der etwas mehr als 20minuetige Vortrag (siehe oben) ist hier komplett transkribiert und lohnt sich zu lesen, gerne auch haeppchenweise. Am Beispiel einer Anekdote um die juengst mit der Presidential Medal of Freedom ausgezeichneten Margaret Hamilton zerlegt Allison Parrish Stueck fuer Stueck die „Hackerethik“, wie sie Steven Levy 1984 in seinem Buch “Hackers” dargestellt hatte. Nach einem Exkurs ueber soziale Kontexte stellt sie den urspruenglichen Lemmas jeweils eine Frage gegenueber. Und ich finde sie grossartig:

allison-parrish-programming-forgetting-26

(danke @lorz und @mjays fuer die Links. Ich weiss leider nicht mehr, von wem ich den Vortrag retweeted bekam.)