Buchempfehlung: A Civic Technologist’s Practice Guide, von Cyd Harrell

Die Civic-Tech-„Bewegung“ – so man ueberhaupt von einer sprechen kann, so vielfaeltig wie die Stroemungen sind – kommt langsam ins Pubertaetsalter. Um so ueberraschender, dass Buecher aus der Praxis wie der “Civic Technologist’s Practice Guide“ von Cyd Harrell immer noch so selten sind. Klar, in den ueblichen Fachbuchverlagen gibt es ganze Regalmeter voll mehr oder eher weniger nuetzlicher Handreichungen zu „Digitaler Transformation“, irgendwas mit Agil, oder Smart-City-Esoterik.

Harrell kann in ihrem Buch mit Stand 2020 aus acht Jahren eigener Praxiserfahrung im Maschinenraum berichten. Sie ist UX-Designerin und begann 2012 erst fuer das Center for Civic Design und danach das damals noch recht neu gegruendete Code for America zu arbeiten, bevor es sie zu 18F verschlug.

Max hat ein physisches Exemplar des Buchs gekauft, das gerade in meinem Umfeld die Runde macht, und nach meinem zweiten Durchlauf ist es gespickt mit Klebezetteln und Annotationen. Nicht etwa, weil man Dinge der Verstaendlichkeit halber annotieren muesste, im Gegenteil, die Sprache im Buch finde ich gut verstaendlich und nachvollziehbar. Ich hatte aber quasi alle drei Seiten einen „Ja, das ist gut umrissen und zusammengefasst, merken!“-Moment.

Egal ob es die Frage ist, was Civic Tech eigentlich alles ist (ehrenamtliches Engagement, externe Unterstuetzung und Beratung der oeffentlichen Hand, interner Kompetenzaufbau in der Verwaltung – ja, alles davon), oder dass sowohl das „zeigen was geht“ als auch das „umsetzen, was es dafuer braucht“ gleichermassen zum Spiel gehoert. Viele in der Szene duerften schon laengst selbst zu diesen Erkenntnissen gekommen sein, zusammengefasst in einem Buechlein sind sie aber praktisch und gut weiterzugeben.

Der Blick auf die Erfahrungen in den USA lohnt sich ohnehin. Den Versuch, Fellows in die Verwaltung zu schicken, gab es dort bereits vor 10 Jahren(!), und auch viele andere Dinge, bei denen man aus den Erfahrungen von anderswo haette lernen koennen, wurden einfach in Deutschland nochmal neu von vorne gemacht.
Erst durch das Buch lernte ich aber, dass in den USA bereits 2014 ein bekannter Venture Capitalist in die US-Civic-Tech-Szene einstieg und bereits laufende Programme einfach nochmal fuer sich neu erfand:

[It] took the civic tech community by surprise, but gained enormous mainstream press attention. It eventually disappeared […] without causing any significant change in the civic sphere, but it sufficiently distracted attention from the other groups working in the same space.

Ich hatte das Buch dann kurz weggelegt, aus dem Fenster geschaut und an hiesige „Social Entrepreneurs“ und Versprechen eines deutschen 18F gedacht und das war ein interessantes Emotiotop.

Im spaeteren Verlauf geht es dann aber auch wirklich ans Eingemachte, wenn man wirklich Dinge modernisieren will in einer Verwaltung und wie das ueberhaupt gehen soll, und hier zeigt sich der Kontrast zu ueblichen „ja da machen wir halt bissel was mit agil“-Simulationen. Laeuft das Schwarzbrotgeschaeft als Unterbau ueberhaupt rund, wer operationalisiert spaeter die schoenen Prototoypen, sind genuegend Ressourcen da, um Legacy-Systeme zu analysieren und sie falls noetig auch aendern zu koennen.
Ueberhaupt, wie wird das Verwaltungssystem langfristig befaehigt, selbstaendig in die Zukunft blicken und die naechste oder gar uebernaechste technologische oder infrastrukturelle Huerde zu nehmen, ohne sich dabei aufs Gesicht zu legen und das womoeglich noch als Erfolg zu verkaufen? (Das mit dem selbstaendig Huerden meistern waere nebenbei die erste Definition einer „Souveraenitaet“, die ich tatsaechlich sinnvoll faende)

An manchen Stellen musste ich schwer seufzen. Fuer Harrell ist es denk- und fragbar, ob eine Verwaltungseinheit selber Dienste in der Produktion faehrt. Dass es Test- und Releaseprozesse fuer Software und Dienste gibt. Umfassendes Monitoring von Verfuegbarkeit und Erfolg. Ich wuenschte, dass man die in deutschen Verwaltungen ueberhaupt als Teil strategischer Aufstellung verstuende.

Und deswegen schliesst das Buch mit einem eigenen Kapitel ueber seelisches Wohlbefinden. Dass es dessen bedarf, hat eine ganz eigene Note. Dass es Teil des Buchs ist, spricht fuer Harrell.

Das Buch ist als Kindle- und EPUB-Format fuer knapp 10 Dollar zu haben, oder fuer rund 20 Euro als Taschenbuch. Ich moechte es sehr empfehlen.

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