Seit ich zu studieren angefangen habe, lande ich mehrmals jährlich in irgendwelchen deutschen Städten, vor allem in Berlin – um Freunde zu besuchen, Konferenzen und BarCamps zu besuchen, oder (wie häufig im Falle Berlins) um als Endpunkt irgendwelcher Urlaubs-(Tramp-)Reisen zu dienen. Und wann immer ich in Berlin – oder einer beliebigen anderen größeren Stadt, in der ich mehr als nur ein paar Tage verbringen werde – ankomme, werde ich mit der immer gleichen, nervigen Frage konfrontiert:
Welches Nahverkehrsticket soll ich nur kaufen?
Das klingt jetzt vielleicht ein wenig lachhaft. Und für jemand mit einem etwas weniger knapp gestrickten Budget, oder für Leute, die nicht ganz so auf Optimierung im Allgemeinen und optimalen Nahverkehr im Besonderen abfahren wie ich, ist das sicherlich auch eine lächerliche Frage. Ich halte das aktuelle Abrechnungsprinzip (nicht nur) im deutschen Nahverkehr aber für eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einem möglichst anstrengungsfreien Nahverkehr – weil man sich im Vorhinein aussuchen muss, wie häufig man den ÖPNV nutzen wird.
Exkurs: „Anstrengungsfrei“ heißt, alle mentalen oder physikalischen Barrieren beim Zugang zu öffentlichem Nahverkehr auf ein Minimum zu reduzieren. Das heißt beispielsweise eine enge Taktung (→ geringe Wartezeiten), saubere und klimatisierte Fahrzeuge, so einfache und angenehme Fahrplan- und Reiseinformationsabfragen wie irgendwie möglich, oder sogar die Minimierung empfundener (sic!) Wartezeiten, indem Echtzeit-Abfahrtsinformationen an Haltestellen bereitgestellt werden. Weitere Beispiele hierzu in der Arbeit von Katrin Dziekan.
Beispiel: Welches Ticket kaufe ich für eine Woche re:publica?
In Berlin habe ich beispielsweise zwei halbwegs sinnvolle Optionen, den dortigen (IMO hervorragenden) Nahverkehr zu benutzen. Eine Wochenkarte für die Tarifzonen AB kostet mich momentan 28,80 EUR und erlaubt mir eine unbeschränkte ÖPNV-Nutzung während dieser Zeit. Einzelfahrscheine kosten mich im Viererpack je 2,20 EUR – und ich kann übrig gebliebene Tickets immer einfach fuer den naechsten Berlinaufenthalt mitbringen (mit Vier-Fahrten-Karten Kurzstrecke lässt sich das dann noch für kürzere Fahrten supplementieren)
In einer perfekten Welt wüsste ich natürlich schon vorher, wie häufig ich das Nahverkehrssystem einer Stadt verwenden werde – und für Berlin funktioniert das sogar mittlerweile halbwegs gut: Ich habe ein Gefühl für die Stadt bekommen, was mir erlaubt, grob abzuschätzen, wie häufig ich zu Fuß unterwegs sein werde und wann ich Bahn, Tram und Bus benutzen muss oder möchte. Falls ich nicht mehr als 13 Fahrten während meines Aufenthalts machen werde, komme ich mit Vier-Fahrten-Karten günstiger davon; falls ich vermutlich häufiger unterwegs sein werde, kaufe ich mir die Wochen-Umweltkarte.
Das funktioniert jedoch nur, wenn auch alles so abläuft, wie geplant. Einmal habe ich mehr Geld für Vier-Fahrten-Karten verbraten, als eine Umweltkarte gekostet hätte – bierselige Nächte sind in Berlin einfach nicht vollständig, wenn man nicht die Hälfte davon in der S- oder U-Bahn verbracht hat 😉
Andersherum geht das natürlich genauso. Vermeintlich meine Lektion gelernt habend, kaufte ich mir eine Wochenkarte – und verbrachte die Zeit hauptsächlich mit Leuten, die ebensowenig ein Problem mit langen Wanderungen durch eine Stadt hatten wie ich. Letztendlich kostete so jede tatsächlich gemachte Fahrt ganze 4,80 EUR. Nunja.
Die Idiotie dieses Systems ist seine absolute Unflexibilität, und der Grund dafür liegt in der Abrechnungsmodalität über anonyme Papierfahrscheine. Sobald ein Ticket entwertet und benutzt ist, existiert es praktisch nicht mehr: Das Geld ist ausgegeben, der Fahrschein verbraucht, die Kosten versunken. Falls ich tagsüber meine vierte Fahrt des Tages antrete, kann ich nicht einfach die drei zuvor benutzten Tickets aus der Hosentasche ziehen und sie gegen eine rabattierte Tageskarte eintauschen – die benutzten Tickets haben ja keinerlei Wert mehr.
Aus Sicht eines Verkehrsbetriebs oder -verbunds ist dieses System natürlich vollkommen nachvollziehbar und sinnvoll. Wer kann denn schliesslich beweisen, dass ich diese drei Fahrscheine nicht kurz vorher aus dem Abfalleimer eines U-Bahnhofs gezogen habe? Und selbst wenn das kein Problem wäre, bräuchte das Verkehrsunternehmen entweder passendes Equipment oder entsprechend Personal, um die Einzelfahrscheine zur Tageskarte „aufzuwerten“. Wer würde so etwas denn machen?
Naja, Transport for London zum Beispiel. Der Londoner Verkehrsverbund hat die altbekannten Papierfahrscheine zugunsten elektronischer Geldbörsen abgeschafft, und die Anonymität der Papierfahrscheine durch (maximal) Pseudonymität ersetzt.
Und aus Passagiersicht ist es das auch vollkommen wert.
Das Oyster-System von TfL
Ich habe Oyster zum ersten Mal bei einem London-Trip 2007 ausprobiert, und war sofort angetan vom Konzept. Gegen ein Pfand von aktuell 5 GBP gibt es eine RFID-basierte Pay-As-You-Go Oyster Card, die dann an Automaten mit Geld aufgeladen werden kann.Um eine Tube-Station zu betreten, wird dann die Karte an die Personenvereinzelungsanlage am Eingang gehalten, und am Ende der Reise wird auf dieselbe Art und Weise am Ausgang wieder ausgecheckt. Analog gibt es Kontaktpunkte in Bussen, oder auf Bahnsteigen „regulärer“ Eisenbahnlinien, so wie die an vielen DB-Bahnhöfen versteckten Touch and Travel-Kontaktpunkte.
Der meines Erachtens beste Clou des Systems ist aber nicht die Kostenersparnis durch den reduzierten Preis gegenüber klassischen Papierfahrscheinen, oder die zigtausenden Fahrscheine, die nicht gedruckt und weggeworfen werden, sondern die Fahrpreisdeckelung: Egal wie viele Fahrten an einem Tag unternommen werden, es wird niemals mehr als der Preis einer Tageskarte abgebucht werden. Das entspricht der Idee, nach der n-ten Fahrt eines Tages die bisher bezahlten Kosten von Einzelfahrscheinen auf ein Upgrade zu einem Tagesfahrschein anrechnen zu können — was natürlich nur geht, wenn nachvollzogen werden kann, dass diese Fahrscheine nicht etwa von anderen Passagieren erschnorrt oder aus dem Muell aufgelesen wurden.Die Oyster-Karte ist dabei nicht einmal personengebunden: Genau wie eine reguläre Tageskarte übertragbar ist, kann auch die Oyster-Karte weitergegeben werden, so dass sich das Upgrade auf eine Tageskarte auch wirklich lohnt — was dann aber implizit passiert, sobald auch wirklich genügend Fahrten benutzt wurden. Die vorherige Überlegung, ob man auch wirklich die erkaufte Leistung auch ausreizt, entfällt. Eine mentale Hürde weniger!
Aber der Datenschutz!
Ja, der Datenschutz. Die Oyster-Karte ist nicht anonym, sondern maximal pseudonym: Zwar kann die Karte nur dann eindeutig an eine oder mehrere Personen gebunden werden, wenn die Aufladung per Kreditkarte erfolgt; die Speicherung vergangener Fahrten ist aber systeminhärent und kaum zu umgehen. Das reicht in Deutschland üblicherweise, um mindestens ein Unwohlsein zu verursachen; in der Regel wird die vereinte Front der Datenschützer_innen dann auch Menetekel von Totalüberwachung und gläsernen Passagieren an die Wand zu malen.
Und tatsächlich, in Cory Doctorows Jugendroman Little Brother gerät der Protagonist wegen seiner vom üblichen Muster abweichenden Mobilitätsnutzung des BART-Systems ins Visier der repressiven Regierung, gegen die er ankämpft (das Buch steht unter Creative-Commons-Lizenz, Fundstelle ist Seite 100 ff.)
Kein Wunder also, dass Versuche, die VDV-Kernapplikation als solch ein Zahlungssystem in deutschen Verkehrsverbünden zu etablieren, auf Widerstand stoßen. „Der ueberwachte OPNV“ sei das, und impliziert wird, dass wir uns damit einer totalitären Kontrolle über unser Leben aussetzen.
Ich habe mit dieser Argumentation zwei Probleme. Erstens übersieht sie — wie so oft — die Machtfrage: Wer kann durch die bloße Verfügbarkeit von Mobilitätsdaten den Passagieren gegenüber Macht ausüben? Die Verkehrsverbünde und -unternehmen? Wohl kaum. Allenfalls einem repressiven Staat und seinen Organen billige ich das Vermögen zu solchem Handeln zu — und in dem Fall liegt das Problem im repressiven Staat begründet. Der geht aber auch von Papiertickets nicht weg.
Die Zukunft vernetzter Mobilitaet
Zweitens lässt diese Papierfahrscheinromantik außer Acht, wie sich Mobilität in der Zukunft weiterentwickeln wird. Car2Go hatte in Ulm immerhin (ohne große Feierlichkeiten) seinen sechsten Geburtstag, und hat mit seinem von manchen Bike-Sharing-Modellen abgeschauten Free-Floating-Konzept und minutengenauer Abrechnung den Markt deutlich aufgerüttelt. Uber rüttelt noch heftiger, momentan ohne dass man vorhersagen könnte, welche mittelfristigen Folgen das für den Taximarkt hat. Und selbstfahrende Autos fahren immerhin schon als Versuchsträger durch die Ulmer Straßen.Interessant wird vor allem werden, wie sich solche verschiedenen Verkehrsmodalitäten künftig mit klassischem ÖPNV verknüpfen lassen. Beispielsweise, indem Free-Floater, Bikesharing oder gar selbstfahrende Autos nicht etwa mit Bus und Bahn konkurrieren, sondern diese ergänzen — durch Spezialtarife nach Betriebsschluss des klassischen ÖPNV, zum Beispiel. Oder indem das klassische Ticket in das NFC-System des Smartphones integriert wird, das die Vorbestellung von Anrufsammeltaxis oder Rufbussen am Ende einer Reise in den ländlichen Bereich gleich miterledigt.
Der DING ist einer der Verbünde, die hier mit dem „Ticket2Mix“ einen bescheidenen, für Verhältnisse deutscher Verbünde aber schon beinahe revolutionären Anfang machen: Neben der regulären Monatskarte sind auch Freiminuten bei drei Carsharing-Anbietern in Ulm und Umgebung im Ticketpreis enthalten. Das entfaltet noch lange nicht das Potenzial, das in RFID-Fahrscheinen steckt, aber gibt zumindest einen winzigen Vorgeschmack auf das, was möglich wäre.
Aber eben nur, solange ein reibungsloser und attraktiver Nahverkehr und die damit verbundenen Folgen für Lebens- und Wohnqualität nicht als weniger wichtig angesehen werden, als dass er unbedingt anonym zu benutzen wäre.
Randnotiz: VDV-Kernapplikation und die in Deutschland getesteten Prototypen haben allesamt ihre Macken und Probleme, insbesondere bei der Usability. Mir geht es aber um das Grundprinzip dahinter, und den Widerstand gegen das System allein aus dem Standpunkt heraus, dass Datenschutz schwerer wiege.
Nachtrag vom 2014-10-20: Der Titel dieses Artikels endete ursprünglich mit „verhindert durch Datenschutz“. Das ist vermutlich irreführend gewesen, denn tatsächlich gibt es mit Touch und Travel ja ein vergleichbares System (wenngleich hier umgekehrt als bei Oyster aktive Endgeräte und passive Berührpunkte verwendet werden), und es gibt keine mir bekannten datenschutzrechtlichen Bestrebungen, vergleichbare Ticketingsysteme zu verbieten oder einzuschränken. Gemeint war der Artikel insbesondere als Replik auf den verlinkten Blogartikel, in dem vom überwachten Nahverkehr die Rede war, und sämtliche anderen Horrorvisionen einer komplett überwachten Gesellschaft. Der Zyniker in mir würde ein verbundübergreifendes intelligentes Ticketingsystem ohnehin zunächst an den Verbünden und dem VDV und danach an einer Vergabe an T-Systems oder Siemens scheitern sehen 😉