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All your Gesundheitsakten, vorher

Auf dem 35c3 gab es einen recht sueffisanten Vortrag, wie die Gesundheits-App Vivy aufgemacht und alle dort versammelten Sicherheitsluecken vorgefuehrt wurden.

Ich habe mich zu Studienzeiten recht viel mit widerspenstigen Mediziner*innen herumgetrieben, die mittlerweile im Berufsleben angekommen sind (witzigerweise vorwiegend in der [Unfall/Notfall]chirurgie), und die auch die Congress-Talks ansehen, egal ob vor Ort oder die Aufzeichnungen. Der Vivy-Vortrag hat mindestens eine Person aus dem Umfeld recht zornig gemacht, weil hier sehr viel Augenmerk darauf gelegt wird, wie IT-Sicherheit „sein muesste“, ohne aber den Status Quo zu beruecksichtigen. Auf Nachfrage hier der Aufschrieb, warum.

Du hast vorgestern mit den Augen gerollt, als es um den Vivy-Vortrag auf dem Congress ging. Was siehst du da als Aerzt*in, was dich bei so einem Vortrag mit den Schultern zucken laesst?

Klar, bin ich einigermaßen entsetzt auf welchem Niveau sich hier die Anbieter bewegen. Wenn ich auch nicht viel erwartet hätte, so kann ich da ja fast nur Bosheit unterstellen. Wenn mir mein Fahrradhändler zu meinem neuen Custombike eine Spiralschloss aufschwätzen wollte, würde ich mir auch verarscht vorkommen.

Aber?

Aber du musst dir auch mal vor Augen halten, wo wir momentan stehen. Aktuell führt mein einziger Weg zu medizinischen Informationen über das mir unbekannte Patient selbst; das ich vielleicht jetzt gleich operieren soll. Aus Datenschutzperspektive natürlich optimal, führt aber im Normalfall zu unvollständigen und nicht selten zu falschen Informationen. Standardsituation: „Haben sie irgendwelche Erkrankungen?“ – „Nein.“ – „Nehmen sie regelmäßig Medikamente?“ – „Ja, jede Menge. Aber die kann ich nicht alle auswendig. Morgens nehme ich immer so einen gelbe und eine ganz kleine weiße Tablette.“ – „…“

Das klingt jetzt aber nicht nach dem typischen Congresspublikum, oder? Oder Bleeding-Edge-Smartphonenutzer*innen?

Der Normalfall ist ja nicht, dass gesunde 20–30Jährige mit Smartphone samt überschaubarer medizinischer Vorgeschichte daherkommen, sondern dein/e ältere/r multipel vorerkrankte/r Oma/Opa. Und was mache ich wenn es dement, bewusstlos oder ein Kind ist? Für den Fall, dass ich das Hausarzt ermitteln kann – aktuell zentraler Datenserver und -hub – kann ich es natürlich kontaktieren; Montag bis Freitag zwischen 08:30 und 12:00 Uhr. Und das faxt (!) mir dann hoffentlich die relevanten Unterlagen. Das ist momentan die einzige (offizielle) Datenübermittlung zwischen medizinischem Personal. Btw: Wie authentifiziere ich mich eigentlich am Telefon? Das hat witzigerweise bisher noch niemanden interessiert.

Wie laeuft denn das sonst normalerweise im Gesundheitswesen, wenn es um Datenhaltung und -uebertragung geht?

Das mit den Medikamenten macht mich übrigens am allergrantigsten. Im Optimalfall hat das Patient einen – mehr oder weniger aktuellen, aber immerhin inzwischen standardisierten – ausgedruckten Medikamentenplan dabei, auch über einen handgeschriebenen Zettel freu ich mich schon, aber meistens kramt der Mensch in seinem Kopf. Und was mache ich damit? Ich tippe die Liste in unser Patientenmanagementsystem, damit es die Pflegekraft auf Station dann handschriftlich in das papierene [System] (= Dokumentation„system“ während des stationären Aufenthaltes) übermittelt, wo es dann Woche für Woche neu übertragen wird, bis ich das Patient entlasse und dann wiederum alles in den Entlassbrief abtippe. Wenn bei dieser Art von Datenübertragung KEIN Fehler passiert, ist das reine Glückssache.
Da kann ich mich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, ALLES sei besser als DAS. Hier geht es nicht um hypothetische soziale Gefahren sondern ganz konkrete medizinische.
Zum Beispiel eben darum, wie Patient IM KRANKENHAUS an die RICHTIGEN Medikamente in der RICHTIGEN Dosierung kommt. Und das regelhaft.
Achso, frohes neues Jahr übrigens. 2019!!!11

Was mich im Zusammenhang mit dem Vivy-Votrag noch mit den Augen rollen lässt ist die Aussage „Die sichere spezifizierte Akte wird niemand nutzen.“, weil das mit der elektronischen Gesundheitskarte zu umständlich sei. Dazu kann ich dann nur sagen: Selbst schuld. Meiner Meinung nach wäre es völlig ausreichend wenn es ENDLICH ein sichere Lösung zum Informationsaustausch mit der gematik gäbe. Vor allem weil wir alle jetzt schon die Karte haben! Wer es weniger umständlich möchte, der nimmt halt Abstriche bei der Sicherheit in Kauf. Ist doch dann selbst gewählt.

Ist das jetzt die Medizin-Variante des beliebten Nerdspruchs „Kein Backup? Kein Mitleid!“?

Kurz gesagt: Ja.

Wo ich schon gar nicht mehr mit den Augen rollen kann, ist bei der Frage, warum wir bei der gematik seit 2 Jahren auf dem Niveau der Versichertenstammdaten festhängen. https://www.gematik.de/telematikinfrastruktur
https://www.gematik.de/ausblick/roadmap
Dabei bietet die Idee dahinter alles, was ich mir als „LeistungserbringerIn“ wünsche.
Kann man nicht daran weiterarbeiten statt irgendwelche fancy Apps zu unterstützen?
Wer sich übrigens dafür interessiert:
https://fachportal.gematik.de/

Okay, das heisst, der Jetzt-Zustand ist einfach Kommunikation per Fax… Telefon… abschreiben? Oder noch was schlimmeres?

Innerhalb eines Krankenhauses oder einer Praxis gibt es ein Patientenmanagementsystem, wo jeder für sich Daten sammelt. (Der Nutzer loggt sich hier übrigens mit seinem standardisierten Nutzernamen und seinem Wunschpasswort – meist ohne jegliche Anforderung bezüglich der Stärke – ein.)
Immerhin eine dezentrale Lösung. Leider sind diese Systeme weder vernetzt noch vernetzbar, da völlig inkompatibel, weil nicht standardisiert. Wie wird also übertragen? Ausdruck, Scan, Ausdruck, Fax, Scan, Ausdruck… die Qualität kannst du dir vorstellen. Aber hey, ganz hinterm Mond leben ÄrztInnen auch nicht; es gibt ja noch Whatsapp…

Funfact, ich arbeite in einem Klinikverbund, indem die einzelnen Kliniken immerhin schonmal die selbe Software verwenden. Bisher jedoch jeder für sich auf einer eigenen Datenbank; das heißt, dass ich bisher nich mal auf Daten meines eigenen Klinikverbundes zugreifen konnte. Die Datenbanken werden 2019 jetzt endlich zusammengeführt… haben sie gesagt… In Wirklichkeit wurden alle Kliniken auf die Datenbank der größten geschalten. Mit der Konsequenz, dass zum Jahreswechsel die Patientenakten der bisher von mir Behandelten leer waren. Eine Zusammenführung ging nämlich nicht, da die einzelnen Kliniken random Patienten- und Fall-IDs in ihren Datenbanken vergeben haben. Natürlich sind die ganzen alten Daten nicht verloren. Ich kann mich während einer Frist auch noch in das alte System einloggen. Und irgendwann wird es mal ein Archiv geben, das in die Patientenakte eingebunden wird, wo zumindest die exportierbaren (?) Informationen liegen werden. Ich vermute ja als Bilddatei :-p

Ulm: Welle seltsamer Schluesse schwappt ueber

„Ulm: Die Welle der Gewalt gegen Hilfskräfte schwappt über“ hiess es gestern beim oertlichen Lokaljournalismusanbieter. Und dieser Text ist in seiner Gesamtheit so merkwuerdig, dass ich ihn hier mal kurz abklopfen moechte.

Inspiriert wurde die oertliche Recherche offenbar durch mindestens zwei Artikel der letzten Tage: Die zitierte Geschichte um einen Nuernberger Rettungssanitaeter, der im Einsatz gebissen wurde, findet sich auch auf sueddeutsche.de (vom 31.08.2011, im swp-Artikel auch verlinkt) und auf bild.de (vom 04.09.2011).

Das gab dann wohl Anlass, einmal in Ulm nachzurecherchieren — die Idee ist nachvollziehbar, der Zusammenhang zwischen dem Artikel und der Ueberschrift vom Ueberschwappen einer Gewaltwelle dagegen so gar nicht. Von Gewalt, auch nur ansatzweise im Umfang wie im Nuernberg-Aufreisser ist naemlich bei den Interviewten nie die Rede:

„Solch extreme Schutzmaßnahmen müssen wir zum Glück noch nicht treffen. Und hoffentlich kommt es auch nie dazu“, sagt Rainer Benedens, Rettungssanitäter des Deutschen Roten Kreuz aus Ulm.

[…]

Die Hemmschwelle, den Rettungsdienst zu rufen, sei gerade bei Jugendlichen gesunken. „Früher hat man seinen zu betrunkenen Kumpel in eine sichere Lage gebracht und auf ihn Acht gegeben, bis er sich erholt hatte. Heute ist ‚Koma-Saufen‘ angesagt und wenn einer zu viel hat, ruft man halt den Rettungsdienst. Problematisch wird es, wenn bei einer Gruppe der zu Behandelnde minderjährig ist und nicht mehr Herr der Lage ist, aber sich weigert mitzukommen. Dann meinen die anderen, helfen zu müssen und uns davon abzuhalten, den Freund mitzunehmen – wenn es dumm läuft artet es aus und es wird bedrohlich. Hier hilft dann nur noch eine Zwangseinweisung mithilfe der Polizeibeamten vor Ort“, erklärt Benedens.

„Es kommt regelmäßig vor, dass Polizeihilfe angefordert wird, weil sich psychisch kranke Personen gegen die Versorgung durch Sanitäter mit Gewalt zur Wehr setzen. Wie oft wir aufgrund willkürlicher Gewalt gegen die Hilfskräfte ausrücken müssen, kann ich nicht sagen, da im System leider nicht erfasst wird, ob der Rettungsdienst bedroht wird oder andere Personen“, sagt Wolfgang Jürgens, Polizeisprecher Ulm.

Wir halten fest:

  • Eingangs werden Eigenschutzmassnahmen wie durchstichsichere Westen fuer Rettungsdienstmitarbeiter beschrieben.
  • Diese Massnahmen sind laut DRK-Rettungsdienst in Ulm nicht notwendig.
  • Das DRK berichtet von einer sinkenden „Hemmschwelle, den Rettungsdienst zu rufen, […] gerade bei Jugendlichen“.
  • Gelegentlich seien alkoholisierte Jugendliche nicht mehr einwilligungsfaehig und muessten „zwangseingewiesen“ werden (gemeint ist wohl polizeiliche Ingewahrsamnahme nach §28 Abs. 1 Ziffer 2b PolG BW)
  • Die Polizei gibt an, regelmaessig angefordert zu werden, wenn sich psychisch Kranke gegen medizinische Versorgung zur Wehr setzen. Diese Baustelle heisst dann aber Psychisch-Kranken-Gesetz oder Unterbringungsgesetz. Diese polizeiliche Hilfe ist das, was z.B. in bayerischen psychiatrischen Kliniken als „Unterbringung nach 10-2“ bekannt ist.
  • konkrete Zahlen ueber polizeiliche Massnahmen gegen BOS-Kraefte liegen der Polizei Ulm nicht vor.

Zwischendurch wird dann von der Verschaerfung des § 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) erzaehlt, und auch da tut sich erstaunliches auf:

Im Sommer 2010 wurde dann der Paragraf 113 des Strafgesetzbuches verschärft. Seither gilt, wer ‚Widerstand gegen Vollzugsbeamte‘ im Einsatz – auch Feuerwehr und Rettungsdienst – leistet, hat mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren zu rechnen.

Richtig ist: Es gab im Sommer 2010 einen Gesetzesentwurf, der den Strafrahmen auf drei Jahre erhoehen, den Einsatz „gefaehrlicher Gegenstaende“ ebenfalls strafverschaerfend werten und auch Feuerwehr- und Rettungsbedienstete unter Schutz stellen sollte. (An dieser Stelle uebrigens: Feuerwehr und Rettungsdienst sind nach wie vor keine Vollzugsbeamte, und schon gar keine „Hilfskraefte“.)

Beschlossen war dadurch aber noch lange nichts — der Bundesrat hatte beispielsweise moniert, dass Katastrophenschutzkraefte nicht vom Entwurf beruehrt wurden (was dann wieder eine Gegenstellungnahme erforderlich machte), waehrend diverse Strafrechtler nicht ganz zu Unrecht mal laut fragten, ob hier eigentlich zusammen mit dem Strafmass auch gleich das Problem verschaerft werde.

Am 30. Juni 2011 waere dann also eigentlich der Termin fuer den Beschluss des StrRAendG gewesen, das den 113 StGB verschaerft haette. Wurde aber nix draus. Kam wohl die Energiewende dazwischen. Oder die aktuelle Stunde „Einschränkung des Versammlungsrechts durch Massenfunkzellenabfrage“ anlaesslich der polizeilichen Lauschaktion bei den Anti-Nazi-Blockaden in Dresden. Oder wegen etwas ganz anderem, wer weiss.

Was das mit Ulm zu tun hat, weiss ich aber nach wie vor nicht. Vielleicht ist ja die Zahl der psychisch Kranken gestiegen, die renitent werden. Nachdem die Polizei aber keine Zahlen dazu hat (wie das der Artikel zwischen ganz viel Mutmassung ueberraschend ehrlich einraeumt), werden wir das wohl auch nicht herausfinden koennen.

//Nachtrag, 9.9.: Mir ging es nicht darum, hier den Autoren blossstellen zu wollen. Ich habe mich hauptsaechlich darueber geaergert, dass ich nach der ersten Irritation ueber die seltsame Argumentation gerade mal 20 Minuten gebraucht habe, um die passenden Stellen in den jeweiligen Gesetzen und die Beschlusslage zum 113 StGB zu finden — und dass ein kurzer Blick auf den 113 StGB genuegt haette, um festzustellen, dass er bislang noch nicht geaendert wurde. 20 Minuten. Nicht mal so viel Zeit war ein vernuenftiger Artikel wert m(

Update, 9.9., 1500 Uhr

Ich war nicht der einzige, dem die Argumentation etwas seltsam vorkam. Auf Facebook gab es einige Kommentare (danke fuer den Link auf diesen Artikel), und ein namenloser SWP-Facebook-Seitenbetreuer hat eine Ueberarbeitung des Artikels angekuendigt.

Diese Ueberarbeitung besteht, soweit ich das erkennen kann, aus zwei Punkten. Einmal ist das „Ulm:“ aus der Ueberschrift verschwunden, die nun nur noch „Gewaltbereitschaft gegen Rettungskraefte gestiegen“ heisst. Wo das der Fall ist, aund uf welcher Faktenbasis man einen Anstieg gegen Rettungskraefte statistisch belegen kann, bleibt zwar weiter im Dunkel, aber das nehmen wir einfach mal so hin.

Interessant wird es beim woertlichen(!) Zitat des Ulmer Polizeisprechers Wolfgang Juergens, das nun anders lautet als in der ersten Fassung:

„Es kommt regelmäßig vor, dass Polizeihilfe angefordert wird, weil sich Personen gegen die Versorgung durch Sanitäter mit Gewalt zur Wehr setzen.

Vorher stand hier noch, „dass Polizeihilfe angefordert wird, weil sich psychisch kranke Personen gegen die Versorgung“ wehrten. Ob Juergens mit seinem woertlichen Zitat eigentlich die Unterbringung tatsaechlich psychisch Kranker nach dem UBG oder Ingewahrsamname Alkoholisierter nach dem PolG meinte, bleibt leider unklar — im Artikel wurden weder die Aenderungen gekennzeichnet, noch, dass ueberhaupt etwas am Artikel geaendert wurde.

Dafuer blieb dem Artikel der Verweis auf den angeblich schon geaenderten §113 StGB erhalten. Der nach wie vor falsch ist.