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Lagenachbesprechung

There are these two young fish swimming along, and they happen to meet an older fish swimming the other way, who nods at them and says, “Morning, boys, how’s the water?” And the two young fish swim on for a bit, and then eventually one of them looks over at the other and goes, “What the hell is water?”

David Foster Wallace, 2005 Commencement Speech, Kenyon College

Das soll jetzt nicht falsch klingen, aber ich habe in der vergangenen Woche Freude aus einer Diskussion rund um eine Podcastfolge der „Lage der Nation“ gezogen. Zumindest in Deutschland endet nun Monat 11 der Pandemie, und mir fehlen tiefschuerfende Diskussionen sehr. Und nicht zuletzt gab es fuer mich einige Aha-Momente, die mich sehr an Diskurse rund um „Die Digitalisierung™“ erinnerten – und an welchen Stellen sie regelmaessig implodieren, weil verschiedene Seiten gar nicht ueber dieselbe Sache sprechen. Obwohl sie, oberflaechlich betrachtet, dieselbe Sprache sprechen.

Kernproblematik ist, dass wir auch nach Monat 11 der Pandemie immer noch nicht geschafft haben, die Bewaeltigung der Pandemie zu einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu machen, die wir als Kollektiv bewaeltigen, nicht als Ansammlung von Individuen. Derweil wird das kollektive Gedaechtnis, wie wir durch die Pandemie gehen, an vielen Stellen von Stimmen gepraegt, die vergleichsweise gut durch die Lage kommen, waehrend andere Perspektiven fehlen. Das ist ein Problem.

Ich finde leider die Originalquelle auf Twitter nicht mehr, aber ein Zitat in meiner Timeline lautete sinngemaess: „Es gab nie einen ersten Lockdown. Es gab privilegierte Menschen, die sich in ihr Zuhause zurueckgezogen haben. Und weniger privilegierte Menschen, die ihnen Essen geliefert haben.“

Solange diese Sichtweise den Diskurs praegt, haben wir auch nur eine einseitige Debatte (Dass die untereinander wieder viele Risslinien hat, spielt hier keine Rolle. Das Buergertum kann ja auch mal das Feeling mitbekommen, wie das ist, wenn in der eigenen Gruppe verschiedenste Stroemungen miteinander zoffen). Und das ist mir etwas zu wenig.

Impfprivilegien und Individualismus

Den Anfang macht der Podcast „Lage der Nation“, Ausgabe 225. In Kapitel 9 (Ab Minute 45:25) geht es um die Debatte, ob Geimpfte oder Genesene von bestehenden (oder noch kommenden) Beschraenkungen befreit werden sollen. Unter anderem wurde auch der Einwand beleuchtet, ob es nicht unsolidarisch sei, wenn nun Geimpfte und Genesene – platt gesagt – wieder tun duerften, was sie wollen. Die „Lage“-Sprecher verneinen das, im Gegenteil:

Also ich muss ganz ehrlich sagen, dieses Solidaritätsargument überzeugt mich nicht so wahnsinnig. Es ist, sagen wir mal, so ein Stück weit ein Fairness-Argument, solange der Staat tatsächlich die Prioritäten regelt und solange man sich eben nicht frei impfen lassen kann. Aber spätestens wenn Impfstoffe frei verfügbar sind, finde ich, ist Solidarität irgendwie kein wahnsinnig überzeugendes Argument. Da fand ich ganz spannend die Sichtweise von Carolin Emcke, Publizistin aus Berlin. Die hat das auf Twitter sehr schön auf den Punkt gebracht.
Wir zitieren das mal: „Als jemand, die vermutlich erst im Sommer geimpft wird, fallen mir keine vernünftigen Einwände ein, warum andere Menschen, die schon geimpft wurden, nicht auch wieder ins Theater oder ins Kino dürfen sollen. Ich gewinne doch nichts durch deren Verlust“.
Also auf Deutsch, so das Argument. Solidarität ist im Grunde ein Egoismus Argument, denn man selber, man selber verliert ja nichts dadurch, dass die anderen was mehr dürfen. Man muss vielleicht einfach mal den anderen Menschen gönnen, dass sie in gewisser Hinsicht Glück gehabt haben.

Ulf Buermeyer, Lage der Nation 225 (automatisches Transcript)

tante schrieb daraufhin eine Replik – „Lagebesprechung” – in der er die Argumentation Banses und Buermeyers analysiert und insbesondere die Praemissen nochmals gesonders aufzuzeigen versucht, die die beiden als Gegeben voraussetzen. Insbesondere verweist er darauf, dass die Geimpften und Genesenen nicht im luftleeren Raum stehen: Wenn Menschen ins Restaurant oder Theater gehen moechten, bedarf es dafuer wiederum weiterer Menschen, die das Essen kochen und servieren und Tickets abreissen und dergleichen mehr.

tante fuehrt (IMO zu Recht) aus, dass durch die Wiederherstellung des vorpandemischen Normalzustands „Immunkapital“ entsteht und dadurch materieller Druck bei eben diesen Essenskocher:innen und Ticketabreisser:innen, die in folgenden, naja, Optionen muendet:

Ich warte auf die Impfung und verliere meine Existenz/verarme

Ich versuche mir auf dem Schwarzmarkt ne Impfung zu kaufen

Ich versuche mir ein gefälschtes Immunzertifikat zu beschaffen

Ich infiziere mich willentlich und hoffe, nicht schlimm krank zu werden

Ich empfehle die Lektuere und bleibe solange hier.

Ich sehe was, was du nicht siehst

Kippfigur Rubinsche Vase
Kippfigur „Rubinsche Vase“. Je nach Betrachtung ist die Vase zu sehen, oder, naja, die unsichtbaren Arbeiter:innen, die sie fuellen sollen. Gemeinfreie Darstellung von John smithson 2007 via Commons

In der aktuellen „Lage“ 226 gehen Banse und Buermeyer ab Ca. Minute 45 auf tantes Blogpost ein und setzen ihm einige Entgegnungen gegenueber, die ich sehr spannend zu betrachten finde. Ein automatisiertes Transkript des Abschnitts findet sich hier.

Im Wesentlichen bringen die beiden die folgenden Argumentationsstraenge vor:

  • Die von tante bemaengelten unterschlagenen Praemissen seien sehr wohl in LdN225 vorgebracht worden.
  • tantes Argumentation, die Position der beiden spiegle ein sehr individualisiertes Rechts- und Gesellschaftsbild sei unzulaessig, da sie hier im Wesentlichen die Rechtslage wiedergeben wuerden, die genau auf solch einer Sicht aufbaue
  • Als Beispiel koenne man hier die Corona-Warn-App vorbringen, die das individuelle Recht auf Datenschutz hoeher haenge als moegliche gesellschaftliche Vorteile, wenn die von der App erhobenen Daten ueber Kontakte ohne Datenschutz freier verfuegbar gemacht werden wuerden
  • Generell sei die Argumentation mit Solidaritaet zwar menschlich nachvollziehbar, aber eben keine gueltige Argumentation sondern sogar gefaehrlich, weil man damit ja „alles“ begruenden koenne.

Auf die Geschichte mit der Warn-App einzugehen duerfte der muessigste Part sein. Die App ist seit Monaten nur ein weiteres Beispiel fuer den Versuch, durch vermeintlich ueberlegene technische Loesungen tatsaechlich soziale Probleme anzugehen – und dabei die eigentlichen Baustellen (z.B. umfassendes Track&Trace von Infektionen) links liegen zu lassen. Eigentlich war schon die App selber der Versuch, sich irgendwie Freiheiten zu erkaufen anstatt – solidarisch, fuer die gesamte Gesellschaft – die Pandemie komplett in den Griff zu bekommen. Die Debatte um mehr oder weniger Datenschutz in der App ist ein Strohmannargument, und die Unterstellung, dass tante sich ja sicher auch empoeren wuerde wenn man den Datenschutz in der App aufweichen wuerde ist besonders lustig wenn man tantes Geschichte kennt.

Interessanter ist die Behauptung, dass die beiden sehr wohl in LdN225 notwendige Praemissen vorgebracht haetten. Sie seien naemlich davon ausgegangen, dass es dann genuegend Schnelltests geben muesse, um nachweisbar Nicht-Infektioese den Geimpften gleichstellen und damit auch ihnen Dinge ermoeglichen zu koennen. Witzig ist hier, im Transkript darauf zu achten, wer daraus welche Schluesse zieht. Banse sagt:

Ja, wenn denn Geimpfte/Genesene in ein Restaurant gehen dürfen, dann geht das nur unter der Voraussetzung, dass die, die da arbeiten, einen Schnelltest kriegen

waehrend Buermeyer das „Freitesten“ auf eine Gleichstellung mit denjenigen Geimpften bezieht, die sich dafuer entscheiden koennen, zum Beispiel ein Restaurant oder ein Theater zu besuchen.

Beide Faelle beschreiben aber eine komplett unterschiedliche Argumentation, und das ist nicht nur akademisch interessant. Wenn wir im Alltag eine Argumentation vorbringen, fangen wir nie bei Null an. Wir gehen davon aus, dass wir gewisse Grundannahmen mit dem Gegenueber teilen. Zwar ist es theoretisch moeglich, buchstaeblich bei Null anzufangen, wie das in der Mathematik-Grundvorlesung mit Null- und Einselement der Fall ist, auf denen dann quasi alles Folgende abgebildet wird. In alltaeglichen Diskussionen macht man sich damit keine Freund:innen (es sei denn, es ist schon spaet und man trifft in der Kueche Menschen, die wirklich sehr viel Spass an Aussagenlogik haben, was ich hier keinesfalls schlechtreden moechte). In der Praxis wird man sich daher vielfach auf Enthymeme stuetzen, also auf Praemissen, bei denen man annimmt, dass die an einer Diskussion Teilnehmenden sie allgemein anerkennen. Die haben auch den geschickten Vorteil, dass sie einem – weil sie ja allgemein anerkannt sind – bei der Argumentation tatsaechlich helfen.

Es lohnt sich aber durchaus, diese Annahmen einmal gezielt zu dekonstruieren. tante erwaehnt – leider – in seinem Blogpost kein einziges Mal den Begriff „Klasse“. Und der – und die damit verbundenen Praemissen, die man jeweils als allgemein anerkannt annimmt – machen in der Diskussion den grossen Unterschied.

Denn, und damit sind wir beim individualisierten vs. kollektivistischem Gesellschaftsbild angelangt, Freiheit ist nicht eindimensional. Freiheit erschoepft sich nicht in der positiven Freiheit, selber (als geimpfte, genesene oder sei es nur risikobereite Person) zu entscheiden, ein Theater oder ein Restaurant zu besuchen. Zu ihr zaehlt auch die negative Freiheit, nicht durch Dritte dazu gezwungen zu werden, sich einem Risiko auszusetzen, dem man sich nicht aussetzen moechte.

Und hier clashen die Weltbilder. Banse und Buermeyer scheinen sich hauptsaechlich in einer Welt der positiven, individualistischen Freiheit aufzuhalten, in denen externe nicht allein im Recht begruendete Einfluesse selten sind. Keinem von beiden scheint aufzufallen, dass erst durch die Oeffnung von Restaurants oder Theatern eine Situation geschaffen wird, in denen bislang nicht gegen die Pandemie immune Menschen aus wirtschaftlichen Zwaengen letztlich dazu gezwungen werden koennten, sich dem Pendelverkehr im oeffentlichen Personenverkehr auszusetzen, nur um Geimpften und Genesenen das Essen an den Tisch zu bringen. Einen Schnelltest kann man unter diesen Bedingungen fast schon fuer zynisch halten – wir werden wenigstens herausfinden, wenn wir dich als Servicekraft dazu gebracht haben, dich tatsaechlich zu infizieren. Vielleicht findet das Gesundheitsamt dann ja auch raus, ob du daran beteiligt warst, durch deinen eigentlich vollkommen unnoetigen, nur den Menschen mit Immunkapital dienenden Aufenthalt in einer Risikozone dazu beigetragen hast, eine moeglicherweise noch verheerendere Mutante des Virus zu verschaerfen. Oder ob nur du und dein direktes Umfeld in Lebensgefahr gebracht wurden.

Kippfigur. Sieht von unten anders aus als von oben.

Sind hier 6 oder 7 Wuerfel zu sehen? Novi Sad um 1910. Locksit, Kippfigur 6=7 Wuerfel, CC BY-SA 4.0

Das alles waere eigentlich muessig zu diskutieren, wenn die „Lage“ nicht mittlerweile so ein reichweitenstarker Podcast geworden waere, der nicht wenig zur Meinungsbildung zumindest in podcastaffinen Bildungsbuergerkreisen beitragen duerfte. Es gibt derzeit kaum Medienjournalismus, der die Inhalte in reichweitenstarken Podcasts bespricht, und mangels Transcripts ist das auch gar nicht so einfach. Nicht zuletzt aber tat sich die Lage – sicherlich auch wegen des beruflichen Backgrounds von Buermeyer als Jurist – auch in der Vergangenheit dadurch hervor, vorwiegend aus der geltenden Rechtslage heraus Sachverhalte zu argumentieren. Das faengt schon mit der – fehlgeleiteten – Analyse an, was eigentlich Privilegien im rechtlichen Sinne seien.

Gesetze sind aber vor allem gesellschaftliche Konstrukte, die naturgemaess aus existierenden Herrschaftsstrukturen erwachsen. Es gibt keinen Punkt, an dem eine Gesellschaft „fertig“ ist. Was wir heute fuer selbstverstaendlich halten, war noch in der Generation unserer Eltern hart umkaempft. Und fuer manches, was heute Stand der Gesetzgebung ist, wird die nachfolgende Generation uns irritiert den Vogel zeigen. Dieses Bewusstsein, dazu das Anerkenntnis, was „hart umkaempft“ tatsaechlich in der Praxis bei vielen gesellschaftlichen Veraenderungen wirklich bedeutete, und die stetige Dekonstruktion der eigenen Position und Annahmen (gerne bis hin zu dem eher unangenehmen Part, wo mensch auch die Praemissen dekonstruiert, auf denen Teile der eigenen Persoenlichkeit begruendet sind) taeten einer Lage der Nation schon gut.

‘We Shall Overcome’ is a song which, in various languages, is common on every known world in the multiverse. It is always sung by the same people, viz., the people who, when they grow up, will be the people who the next generation sing ‚We Shall Overcome’ at.

 Terry Pratchett, Reaper Man

William Shatner singt. Eine dreistuendige Sondersendung mit Funk.

William Shatner.

The Shat.

Zum 80. Geburtstag von Shatner widmete ihm The Sound of Plaid nicht weniger als drei Stunden Programm, die vollkommen an mir vorbeigegangen waeren, wenn Monsi mir das nicht empfohlen haette. Nicht immer einfach verdaulich, schliesslich spielen sie nicht nur den damals noch lebenden Leonard Nimoy, der “The Ballad of Bilbo Baggins” singt, sondern auch Shatners sehr spezielle Platte “The Transformed Man”. Vollstaendig. Inklusive mehrerer Ausgleichsunterbrechungen durch Funk, weil die Comoderatorin drohte, ansonsten die Sendung zu verlassen.

Wenn ihr eine Mischung wirklich guter Musik und euch bislang vermutlich unbekannter Seiten von Shatner und Nimoy hoeren wollt: MP3-Direktlink / Sendungsseite

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  • Mantis 9-1 — Guenstige (ca. 100 EUR) CNC-Minifraeskonstruktion, z.B. zum Platinen fraesen. Via ProtoSpace