Nicht abzusehen

Was mit zur gefuehlten Surrealitaet der Schiesserei vom Mittwoch beitrug, war der Zeitpunkt. Noch am Dienstag abend war ich zusammen mit zwei Kollegen von Team-Ulm bei unserem Partner, der Suedwest Presse zu Gast, wo wir uns ueber zukuenftige Kooperationen und Onlinejournalismus generell unterhielten, und wie viel schneller manchmal soziale Netzwerke bei der Nachrichtenverbreitung sein koennen.

Beim Remondis-Brand im Sommer 2008 war auf den einschlaegigen Nachrichtenseiten auch dann noch keine Meldung zu finden, als schon saemtliche Abteilungen der Ulmer Feuerwehr im Donautal waren und immer noch nachrueckende Ueberlandhilfe mit Sondersignal durch die Innenstadt fuhr. Auf Team-Ulm war dagegen schon binnen weniger Minuten ein Thread im Forum entstanden, in dem User nach der Ursache der riesigen Rauchsaeule ueber dem Kuhberg fragten. Drei Minuten spaeter kam die Ortsangabe „Donautal“, kurz danach auch die betroffene Firma. 17 Minuten nach Threaderstellung folgte das erste Foto, und 20 Minuten spaeter das erste Video.

Fuer Redakteure, vor allem Lokalredakteure, ist das natuerlich eine dankbare Quelle fuer Hinweise auf moegliche Stories, und so ueberlegten wir lang und breit, wie man dieses Potenzial nutzen kann. Bei der SWP twittert man mittlerweile auch, SWPde verbreitet Schlagzeilen (und Belanglosigkeiten), und Onlineredakteur rod66 meint zwar augenzwinkernd, dass Twitter in sechs Monaten tot sei, hatte aber beispielsweise seinen Print-Kollegen unmittelbar mitteilen koennen, dass sie am naechsten Tag einen Hauseinsturz in Koeln auf der Titelseite haben wuerden. Die Diskussion drehte sich eine ganze Weile lang um die Moeglichkeiten, wie man solche potenziellen Nachrichten auch im TU-Forum schnell erkennt, wie man gezielt nachhaken kann und auf welchem Wege Nutzer den Redakteuren beispielsweise Bilder und Videos zukommen lassen koennen.

Dass schon am naechsten Tag eine bislang beispiellose Neudefinierung des Verhaeltnisses von Journalisten und der Oeffentlichkeit im Netz stattfinden wuerde, hat selbstverstaendlich keiner von uns auch nur ansatzweise geahnt. Es unterstreicht aber meinen Standpunkt, den ich waehrend der Besprechung erklaert hatte.

Meine Ansicht ist, dass ein Redakteur auch immer das „Ohr am Boden“ haben muss. So wie der klischeehafte „rasende Reporter“, den jeder kennt, draussen auf der Strasse unterwegs ist. Die Amerikaner nennen das „Beat Journalism“. Und ebenso muss es meiner Meinung nach in heutigen Redaktionen Journalisten geben, deren „Beat“ das Internet ist. Die wissen, was 4chan und xkcd sind. Die man in den einschlaegigen Plattformen auch kennt — und deswegen auch direkt auf sie zugeht, wenn man eine Nachricht hat, oder den Hinweis, dass man vielleicht einer Falschmeldung aufgesessen ist.

Dabei geht es nicht darum, am schnellsten zu twittern, oder Google Maps zu kopieren. Sondern sich in der Materie auszukennen, die Glaubwuerdigkeit von Quellen einschaetzen zu koennen — und auf dieser Basis lieber noch eine halbe Stunde in Plausibilitaetschecks zu investieren, anstatt jede Agenturmeldung ungeprueft zu verbreiten. Die steht naemlich ohnehin laengst bei Twitter.

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