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Brandversicherungen und Mut

Nach irgendwelchen schlimmen Geschehnissen wird wahrscheinlich deswegen so viel von so vielen Leuten kluggeschissen, weil es so furchtbar einfach ist. Manches davon ist einfach nur doof, anderes bietet Anlass, mal genauer nachzudenken und zu hinterfragen.

Erstens. Buchmacher nehmen vermutlich gar keine Wetten mehr darauf an, wie schnell Unionspolitiker mehr Videoueberwachung und Killerspielverbote fordern, sobald wieder eine neue Gewalttat bekannt wurde. Dass Videokameras zur Gewaltpraevention ebensoviel taugen wie eine Brandversicherung vor Feuer schuetzt, interessiert scheinbar genausowenig wie der Umstand, dass die tatsaechlich vorhandenen Videokameras die brutale Tat in der Muenchener S-Bahn kein bisschen verhindern, mildern oder abschwaechen konnten. Kameras verhindern auch nicht die Umstaende, unter denen junge Menschen aufwachsen, und die sie erst auf die im wahrsten Sinne des Wortes asoziale Idee bringen, ihre Mitmenschen mit koerperlicher Gewalt zu traktieren, sogar bis zur Todesfolge. Videoueberwachung hilft auch Zuschauern nicht, Hilfe herbeizurufen, aber das tun Placebonotrufsaeulen natuerlich auch nicht. Und nicht zuletzt mobilisiert Videoueberwachung auch keinen einzigen Zuseher, einzuschreiten.

Zweitens. Ja, die Zuseher. “Gaffer” nennen sie einige und schuetteln den Kopf angesichts ihres passiven Verhaltens. Das geht aus der Ferne natuerlich gut, wenn man nicht dabei war und sich vormachen kann, ein rechtschaffener Buerger zu sein, der immer eingreifen wuerde. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Ich bin seit zehn Jahren bei der Feuerwehr und weiss im Einsatz auch ohne notfallmedizinische Ausbildung halbwegs, was ich zu tun habe. Vor einem Jahr habe ich direkt vor mir miterlebt, wie eine aeltere Dame nach der Blutspende zusammengeklappt ist und sich eingenaesst hat. Ich wuerde mich nicht feige nennen wollen, aber das einzige, was ich in dem Moment tat, war dasselbe, was alle anderen taten: Aufhoeren auf der Rotkreuzsemmel herumzukauen und mit grossen Augen auf das Geschehen starren. Bis sich einer regte und Hilfe holte. Dann erwacht man so langsam und bei mir schaltete sich der “Blaulichtmodus” ein. Hinterher war mir das furchtbar peinlich, aber offenbar ist das nichts aussergewoehnliches.

Machen wir uns nichts vor: Wir sind Herdentiere. Wenn auf einmal jemand herkommt, der offenbar staerker ist als man selbst, und den grossen Zampano markiert, schauen wir erst einmal geradeaus und hoffen, dass es uns nicht trifft. Besonders dann, wenn es gleich mehrere Stoerenfriede sind. Die ganze “friedliche Herde” wuerde mit diesen Einzelnen locker fertig. Dafuer bedarf es aber erst eines Anfuehrers, der die anderen aus ihrer Starre aufweckt und ihnen sagt, was sie tun sollen. Findet sich der Anfuehrer nicht, oder schafft er es nicht, die anderen aus ihrer defensiven Schreckhaltung zu holen, haben wir ein Problem. Dann warten naemlich alle darauf, bis noch jemand aufsteht und sagt, “Hey, so geht’s nicht”, um dann laut “Genau, so geht’s nicht!” zu sagen und sich hinter ihn zu stellen. Nur, wenn das alle tun, bleiben alle sitzen und beschimpfen innerlich die anderen, was sie doch fuer Feiglinge sind. Und sich selber auch.

Das ist ausdruecklich keine Schuldzuweisung, nicht einmal ansatzweise. Man sollte sich das aber noch einmal vor Augen halten, dass es nur allzu leicht ist, hier mit dem Finger zu zeigen oder dem Kopf zu schuetteln — obwohl die meisten von uns vermutlich nicht viel anders gehandelt haetten, wenn sie tatsaechlich dabei gewesen waeren und das nicht nur als Gedankenuebung auf dem Buerostuhl exerzieren.