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Informationslecks vorhersehbar

Neulich fand an der uulm ein Mitarbeiterseminar fuer das „Verhalten im Amokfall“ statt, nicht zuletzt wegen des Zyankalizwischenfalls 2006 mittlerweile eine mehr oder weniger regelmaessige Aktion hier. Ich wollte eigentlich auch interessehalber teilnehmen, hatte mich aber aufgrund akuten Schlafmangels kurzfristig umentschieden.

Nun ist mir aber ein schoenes Flussdiagramm in die Haende gefallen, das im Rahmen der Veranstaltung ausgegeben wurde, und das laesst mich schon ein wenig die Haende ueber dem Kopf zusammenschlagen. Im Amokfall soll die Universitaet per Megaphon ueber die Lage informiert werden, was jedem, der schonmal Megaphone benutzen musste, dann doch eher optimistisch vorkommen duerfte.

Besonders denkwuerdig ist aber, dass in diesem Plan von Praesidium und Polizei offenkundig davon ausgegangen wird, dass zeitgleich zu Amoklaeufen dann auch mal das Internet kurzzeitig aus der Welt verschwindet. 2006 hatte es immerhin sechs Stunden gedauert, bis das Thema im lokalen Social Network auftauchte — Radio, Fernsehen und Presse wussten trotz eintreffender Polizeihundertschaften stundenlang nichts von der Aktion, was nicht zuletzt an der abgeschiedenen Lage der Uni liegen duerfte.

Heutzutage duerfte so ein Zwischenfall binnen weniger Minuten auf den ueblichen Kanaelen auftauchen: TU, Twitter, Facebook, aber eben auch als Bewegtbild auf bambuser, qik und Co.

Um so niedlicher liest sich daher die Anweisung auf dem Flussdiagramm der Uni:

Presseauskünfte nur durch Präsident/Pressesprecher

Was gute Schulen mit Amoklaeufen zu tun haben koennten

Der Bund plant ein “Fruehwarnsystem gegen Amoklaeufer”, wurde gestern verkuendet. Kernthese ist, dass sich ein Amoklauf jahrelang im Vorfeld ankuendige, und man Schueler identifizieren wolle, die beispielsweise Gewaltphantasien erkennen lassen. Mein Lieblingsjournalist Gunter Hartwig hat dazu natuerlich auch eine Meinung:

In allen diesen Fällen braute sich das Unheil über Wochen, wenn nicht gar Jahre zusammen, und es gab im sozialen Umfeld der jungen Täter durchaus Hinweise auf eine fehlgeleitete Gewaltbereitschaft oder den Rückzug in eine Welt voller Hass und Selbsthass.

[…]

Und es wird – sieben Jahre nach Erfurt – höchste Zeit, an unseren Schulen ein wirksames Frühwarnsystem einzurichten, das bei realistischer Betrachtung keinen absoluten Schutz vor Gewaltexzessen bieten kann, aber mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse ein Höchstmaß an Prävention.

Voll gut. Man verschliesst nun also Schultueren, schickt Lehrer in Anti-Amok-Schulungen, screent Schueler auf ihre Gewaltbereitschaft und stiftet womoeglich die Mitschueler dazu an, sich gegenseitig zu denunzieren, wenn der Banknachbar seltsame Zeichnungen auf seinen Heftrand kritzelt.

Aus muffigen Schulen mit wahlweise in uringelb, kotzgruen oder kackbraun gestrichenen Waenden, in denen es immer ein wenig nach Kohl und Angstschweiss riecht, werden nun also nicht minder muffige Schulen, in denen eine konstante Angst vor ploetzlich durchdrehenden Schuelern herrscht.

Warum ein unscheinbarer Schueler — ja, die ueberwiegende Zahl ist maennlich — auf einmal in gewaltigen Blutorgien seine Schulkameraden und meistens am Ende sich selbst umzubringen versucht, das will offenbar keiner so recht analysieren. Dass Persoenlichkeitsdefizite aus Nichtbeachtung und Vernachlaessigung entstehen, aus diesen Persoenlichkeitsdefiziten soziale Defizite, dank derer man Kraenkungen nicht verarbeiten kann und sich lieber in Nebenrealitaeten verzieht, aus denen erst Gewalt- und Toetungsphantasien entstehen, ist in der Kausalitaetskette offenbar unwichtig. Dass Deutschland offenbar eine Sonderrolle bei blutigen Gewalttaten an Schulen einnimmt, auch.

Wer tiefer in das Thema einsteigen mag, dem sei ein passender umfangreicher Artikel von Pavel Mayer (Aggregat7) ans Herz gelegt, gegen den mein Ethikunterrichtsdiskurs von neulich wie ein Erstklaessleraufsatz wirkt, und den auch Gunter Hartwig vielleicht einmal lesen sollte.

Aggregat7 empfehle ich jetzt auch mal allgemein ganz heftig. Enno bezeichnet ihn als One-Man-Thinktank, und ich bin geneigt, ihm Recht zu geben.