Jesus oder Locke?

Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir in der Grundschule ab der ersten Klasse Religionsunterricht, und zwar fuer alle. Spaeter wurde dann zwischen Religion und Ethik aufgeteilt, und waehrend die anderen im Religionsunterricht auswendig lernten, wer wann wen zeugte oder erschlug, wem einen Brief schrieb oder weswegen zum Maertyrer wurde, lernten wir in Ethik den kategorischen Imperativ kennen. Und in unserer beinahe grenzenlosen Oberstufennaivitaet und -arroganz glaubten wir sogar, ihn vollstaendig zu verstehen.

Auch wenn dem eher nicht so war, fand ich das interessant, weil man zu philosophieren anfangen konnte, wie das beispielsweise mit Eigentum ist, und warum mit einem Eigentumserwerb nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten verbunden sind. Irgendwie machte das auch die dazugehoerigen Artikel im GG greifbarer und verstaendlicher.

Ansonsten war alles, was sich irgendwie um Recht dreht, auf unzaehlige Unterrichtsfaecher verteilt. Angefangen von Heimat- und Sachkunde ueber Geschichte, Erdkunde, Wirtschaftslehre bis hin zu Gemeinschaftskunde gab’s mal hier ein wenig Grundgesetz lesen, mal da ein bisschen KG versus GmbH — einen roten Faden habe ich dahinter aber nie entdecken koennen. Und irgendwie finde ich das seltsam, dass man einerseits fuer ein Abitur Jahre lang intensiv mathematische Grundprinzipien lernt, aber nie so richtig umfassend seine staatsbuergerlichen Rechte und Pflichten begreifbar gemacht bekommt. Man muss sich das einmal vorstellen: Ein Abiturient soll sich 13 (bzw. 12) Jahre lang mit dem Christentum beschaeftigen, sich aber nie darueber Gedanken machen, wie Recht und — daraus folgend — Gesetze entstehen. Dass jedem Recht und jeder Pflicht eine Abwaegung zwischen Einzel- und Gemeinschaftsinteressen zugrunde liegt. Dass Freiheiten nicht vom Himmel fallen, sondern begruendbar sind. Dass Moralvorstellungen in der Gesetzgebung keine Rolle spielen sollten.

Warum setzen wir uns in der Schule die komplette Schulzeit lang mit dem Leben und Wirken eines religioesen Propheten auseinander, anstatt verstehen zu lernen, wie unser Gemeinschaftsvertrag funktioniert — denn nichts anderes sind unsere Gesetze — dessen Rechtssubjekt wir im taeglichen Leben sind, und dessen Rechte und Pflichten wir taeglich wahrnehmen und auch manchmal an ihre Grenzen stossen? Warum lernen wir nur broeckchenweise, was eine freiheitliche Demokratie ausmacht, und was Anzeichen fuer Einschraenkungen der von ihr gewaehrten Freiheiten sind?

Je mehr ich darueber nachdenke, desto weniger verstehe ich das.

9 Gedanken zu „Jesus oder Locke?

  1. Laser

    Du kommst doch aus Bayern?
    Nicht nachdenken – glauben!
    Glauben an den Jesusmensch und die bayr. Staatsregierung – und alles wird gut…

    Gruß

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  2. Pascal

    Was den mangelhaften Gemeinschaftskundeunterricht angeht, geb ich dir Recht. Was den Religionsunterricht angeht muss ich dir entschieden widersprechen und das obwohl ich persönlich kein Stück religiös bin.
    Mag sein, dass es Religionslehrer gibt, die Religionsunterricht tatsächlich à la Bibelkunde veranstalten, dann liegt das an den Lehrern. Bei mir war das nicht der Fall, ich hatte katholische Religion (ich bin nicht mal katholisch) vierstündig in der Oberstufe und hab dort sogar das Abitur drin geschrieben. Wie kam das? Der Lehrplan sah für 12/13 vier Themen vor: Gott, Soziale Gerechtigkeit, Gottesglaube vs. Atheismus und Christliche Anthropologie. Mal abgesehen vom ersten Thema (was tatsächlich ein bisschen auf deine Beschreibung hinausläuft) war das alles furchtbar interessant und bereichernd selbst für einen Menschen, für den die Existenz Gottes keine Rolle spielt. Erstens mein ich unsere eigene Kultur – die ja zu allererst christlich ist – besser zu verstehen, seitdem ich etwa nachvollziehen kann, wie sich das Gottesbild über die Jahrhunderte gewandelt hat oder wie die Kirche den Menschen sieht. Zweitens mein ich die Kirche als gesellschaftlichen und politischen Akteur heute und in der Vergangenheit wesentlich besser einschätzen zu können. Drittens ham wir die ganzen Philosophen auch durchgekaut und ich weiß jetzt wieso Feuerbachs oder Marx‘ Religionskritik eben nicht so einleuchtend ist, wie sie auf den ersten, zweiten und dritten Blick aussehen mag. Viertens kann ich in jeder Kirche (im Urlaub kommt man da ja schon mal vorbei) den Experten raushängen lassen 😛 Ne, im Ernst mir würde auch noch ein fünftens, eins sechstens etc. einfallen. Wir hatten eine tolle Religionslehrerin, die auch abweichenden Meinungen und naturwissenschaftlichen Argumenten offen gegenüber stand. Wobei dieser konstruierte Gegensatz Naturwissenschaft – Gottesglauben auch schon wieder Quatsch ist. Wir hatten einen super Exkurs in dem wir uns in Biologie und Religion in gemeinsamen Stunden über ethische Fragen ausgetauscht haben. Das hat sich wunderbar ergänzt. Und nochmal: Privat hab ich mit Gott und Kirche nix am Hut.
    Um also deine Frage zu beantworten: Einen besseren Sozialkundeunterricht – sehr gerne, aber lasst den Interessierten weiterhin ihren Religionsunterricht.

    Ich hoffe das war jetzt nicht zu wirr. Sollte ich auch mal nen Blogpost drüber schreiben.

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    1. stk Beitragsautor

      Ich haette vielleicht ergaenzend dazuschreiben sollen, dass ich von der 5. bis zur 10. Klasse ein katholisches bayerisches Kolleg besucht habe, und dort lag die Art des Religionsunterrichtes offenbar nicht an den einzelnen Lehrern, sondern an der kompletten Institution. Ich habe natuerlich wenig Ahnung, wie der Lehrplan in der Oberstufe aussah, bis dahin habe ich das aber hauptsaechlich als — eben — Bibelkunde in Erinnerung. Von Feuerbach oder gar Marx keine Spur, stattdessen Moralinsaures.

      Ich mag da auch etwas voreingenommen sein, weil ich am Religionsunterricht teilnehmen _musste_ (erst mit dem Wechsel nach BaWue aenderte sich das) und auch andere Aktionen sehr schein-heilig waren (offiziell keine gemeinsame Wohnung fuer nicht-verheiratetes Lehrerpaar, etc.), mir kam das aber alles sehr droege und weltfremd vor.

      Und ich will auch gar nicht fordern, dass man sich in der Schule nicht mehr mit Religionen befasse — die Weltreligionen koennen und sollen durchaus zur Allgemeinbildung gehoeren, die man in der Schule vermittelt bekommt. Aber vielleicht nicht unbedingt von Religionslehrern vermittelt, die von der Kirche ausgewaehlt werden und deswegen wohl als voreingenommen gelten duerfen.

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  3. elplato

    Die Antwort auf „Jesus oder Locke?“ lautet: Jesus und Locke. Kein Philosoph, der westliche Philosophie verstehen will, kommt an Jesus vorbei. Ich bin wirklich auch nicht gläubig, aber ein paar tolle Sachen hat der Kerl schon gesagt.

    Übrigens habe ich auch einen tollen Religionsunterricht gehabt. Wir haben eigentlich die komplette 10. Klasse über Abtreibung und Todesstrafe und so geredet und in der Oberstufe zwar auch mal über Gott (die Frage, ob es einen Gott gibt oder nicht, wird auch in der Philosophie diskutiert) und über Jesus (das war dann meistens so Bibelstellenlesen, das war tatsächlich etwas langweilig), aber meistens doch über allgemeine Fragen der Philosophie gesprochen. Natürlich gibt die Religion immer mal andere Antworten, aber nicht alle Religionslehrer sind so intolerant wie Papa Ratzi (ich glaube sogar die wenigsten).

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    1. stk Beitragsautor

      Was Jesus _und_ Locke angeht, siehe Antwort auf Pascal: So etwas haette ich ja gerne, ein allgemeines Fach, in dem gerne auch die Weltreligionen zur Sprache kommen, das aber von Anfang an auch ueber „Bibelkunde“ hinausgeht.

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  4. elplato

    Ach ja und ich war auch auf einer christlichen Schule und _musste_ Religionsunterricht haben, allerdings war das nicht in Bayern sondern im weltoffenen Karl-Lehmann-Mainz.

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  5. fidel

    Irgendwie kommen mir die ersten Ansätze des Ethikunterrichtes sehr bekannt vor …. auch das Gefühl Mister Kant verstanden zu haben war damals definitv vorhanden hehe 😉

    Interessante Parallele ….

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  6. Patrick

    Hi Stefan,

    da geb‘ ich dir vollkommen Recht, wobei ich gestehen muss, dass ich Antitheist bin und mit Glauben im Allgemeinen ueberhaupt nix anfangen kann.

    Das Problem ist meiner Meinung nach aber nicht nur auf die buergerlichen Rechte und Pflichten beschraenkt. Man wird an sich dafuer ausgebildet, um nach dem Abitur zu studieren, nicht um sich danach fuer einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bewerben (so war es bei uns jedenfalls). Wir haben in der 11ten vielleicht 1 oder 2 mal ’ne „Bewerbung“ geschrieben und ich hab‘ keinen blassen Schimmer davon, wie man ’ne Steuererklaerung ausfuellt.

    Wenn man all diese Defizite addiert und sich dann anschaut was man in der Oberstufe fuer Quatsch lernt dann wirkt das gymnasiale System schon ein wenig eigenartig.

    Greetings

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    1. stk Beitragsautor

      Steuererklaerung, guter Witz 😀

      Dank Nebenfach „Unipartywissenschaften“ bin ich da jetzt etwas fitter — so richtig Ahnung davon habe ich aber immer noch nicht. Und die Aussage, dass man auf ein Studium vorbereitet werde, kann ich nicht unterstuetzen. Das wurde auch neulich bei der Podiumsdiskussion im Rahmen des Bildungsstreiks thematisiert: Alle Eltern wollen ihr Kind am besten auf die Schulform n+1 schicken, wobei n diejenige Form ist, die den Leistungen am passendsten scheint. (Exkurs ueber mehrgliedriges Schulsystem am besten sparen ;))

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