Schlagwort-Archive: technikfolgenabschaetzung

Das graue Rhinozerus der oeffentlichen IT-Infrastruktur

Die letzten zwei Wochen waren rasant. Was ich hier aufzuschreiben versuche, gehoert ganz klar in die „unsortierte Gedanken“-Kategorie, die hier augenzwinkernd im Titel steht. Das ist nicht reif. Das ist einfach dahingeschrieben, Status jetzt. Und mit einer gehoerigen Portion Wut im Bauch geschrieben.

Die IT-Infrastruktur der oeffentlichen Hand ist eine Shitshow. Das ist nichts neues. Wer auch nur ein wenig Zeit damit verbracht hat, sich damit zu beschaeftigen und die notwendige Fachkompetenz mitbringt, wird dem zustimmen. Oder ist BeraterIn, und macht jede Menge Geld damit, das naechste Leuchtturmprojekt zu verkaufen – natuerlich nicht auf andere Einsatzorte transferierbar, nicht nachhaltig, Hauptsache Powerpoint. Die Gruende dafuer sind vielfach hier und an vielen anderen Orten beschrieben, und ich habe nicht einmal Lust, die passenden, teilweise Jahre alten Texte dazu zu verlinken. Ich dachte lange Zeit, das liesse sich durch „Kill them by friendliness“ und Umarmung loesen. (Danke an der Stelle an meinen guten Freund S. fuer die jahrelange Motivation, nicht in noch mehr Zynismus abzugleiten. Bei ihm funktionierte seine Methode innerhalb seiner oeffentlich-rechtlichen Struktur, und ich bin ein wenig neidisch).

Covid-19 bringt derzeit viele Dinge ans Tageslicht, die bislang implizit irgendwie dahinschmorten. Es steht die Frage im Raum, wie Verwaltungen ihre Kernaufgaben wahrnehmen koennen, auch dann, wenn zur Sicherheit der Allgemeinheit Menschen aus der Verwaltung von zuhause aus arbeiten sollen. Und vielleicht bekomme ich nur einseitig Informationen, oder ich bekomme Erfahrungsberichte nur von Staedten, in denen es strukturell schon viel zu lange brennt, aber die Antworten bleiben bislang aus.

Es geht hier um strukturelle Defizite der oeffentlichen Hand, die lange Zeit gerade mal Feuerwehr spielen konnte, wenn es irgendwo im eigenen Haus brennt. Nicht selten waren die IT-affinen Kraefte die einzigen, die (um in der Metapher zu bleiben) ueberhaupt eine Rauchentwicklung wahrnehmen konnten – was zur Folge hatte, das sie gar nicht das notwendige Loeschwasser bekommen haben, um abwehrenden Brandschutz zu betreiben. Und da sind wir noch nicht einmal bei der Praevention und der Luft zum Atmen, um die Situation strukturell zu verbessern. Wir haben den Zustand, dass im metaphorischen Gebaeude der Verwaltung im Treppenhaus offene Reifenfeuer aufrechterhalten werden, um die Bude zu heizen – und keiner stoert sich daran. Ich war vor gut zwei Jahren Teil des kommunalen Fachpublikums bei einem Vortrag, wie die Verwaltungs-IT einer nicht genannten Kommune (nein, nicht meine) mit Kryptotrojanern umgehen moechte. Und die geplanten Massnahmen waren – und das ist kein Witz – die Vorbereitung von Alarmfax-Boegen, und der Austausch der Netzwerkkabel durch rote Kabel, um diese nach Ausloesung der Kryptotrojaneralarms (per Fax, klar) aus der Wand ziehen zu koennen.

Das ist der Status Quo.

Und jetzt haben wir unseren Black Swan, der vielleicht eher ein Gray Rhino ist.

Zur Erklaerung. Ein Black-Swan-Event ist ein Ereignis, das sich durch folgende drei Kriterien auszeichnet, copy und paste aus Wikipedia:

1) The event is a surprise (to the observer).

2) The event has a major effect.

3) After the first recorded instance of the event, it is rationalized by hindsight, as if it could have been expected; that is, the relevant data were available but unaccounted for in risk mitigation programs. The same is true for the personal perception by individuals.

https://en.wikipedia.org/wiki/Black_swan_theory#Identifying, CC BY-SA

Die Black-Swan-Theorie wurde 2013 von Michele Wucker durch die Gray-Rhino-Theorie ergaenzt. Gray-Rhino-Faelle sind durchaus realistisch und ihr Eintreten wahrscheinlich, ihr Einfluss ist betraechtlich, aber dennoch werden die mit ihnen verbundenen Folgen systematisch kleingeredet. Eine Uebersicht habe ich in diesem Post gefunden – auch wenn ich das Wording etwas problematisch finde, ich habe leider nichts besseres auf die Schnelle gefunden.

Das graue Rhinozeros, ueber das wir hier sprechen, sind die systematischen Folgen einer ueber Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, vernachlaessigten IT-Infrastruktur aus oeffentlicher Hand. Wenn wir als Gesellschaft laut fragen, warum das RKI die letzten Wochen lang die Meldungen der Gesundheitsaemter haendisch in Excel-Listen gepflegt hat: Das ist das Resultat eines Gray Rhino. Wenn wir uns fragen, ob und wie Kommunen in der Lage sind, auch dann handlungsfaehig zu bleiben, wenn die Beschaeftigten mobil arbeiten: Das ist das Resultat eines Gray Rhino.

Mobil arbeiten ist derweil keine Statusfrage. Viel zu lange wurden Laptops und Smartphones im oeffentlichen Dienst quasi als Perks fuer Fuehrungs- und sonst irgendwie herausragende Kraefte verstanden. Es geht aber darum, auch in aussergewoehnlichen Lagen die Grundfunktionalitaeten der Verwaltung aufrecht zu erhalten. Kann eine Kasse keine Zahlungen mehr anweisen, trifft das im schlimmsten Fall sehr vulnerable Bevoelkerungsgruppen. Es geht nicht darum, ob die Arbeitsgruppe Trullala den Fuehrungskraefteaustausch jetzt auch remote durchfuehren kann. Sondern darum, ob Bafoeg-EmpfaengerInnen Geld aufs Konto bekommen, um ihre Miete zu bezahlen. Oder Menschen, die Wohngeld bekommen. Spielt die Szenarien gerne weiter durch. Wir haben das im eigenen Beritt vor zwei Wochen gemacht.

Was jetzt abzusehen ist: Die kommunalen Haushalte werden leiden. Die notwendigen Massnahmen zur Eindaemmung der Pandemie werden das Gewerbesteueraufkommen der Kommunen – und das ist ihre wesentliche Einnahmequelle – treffen. Auch Staedte, die bislang gut dastanden, werden knapper wirtschaften muessen.

Und jetzt sind wir wieder bei der Rauchwahrnehmung des Reifenfeuers.

Wenn die Konsequenz ist, dringend notwendige Investitionen in die Verwaltungs-IT nicht vorzunehmen. Wenn die Konsequenz ist, rundum den Guertel enger zu schnallen und eine funktionierende Infrastruktur irgendwie als eh-da zu betrachten. Wenn die derzeitige Offenlegung systematischer Defizite nicht Anlass ist, massiv Versaeumnisse der vergangenen Jahre nachzuholen, sondern allenfalls der metaphorischen IT-Feuerwehr endlich mal ein bissel Wasser nachzufuellen, um die allerallerschlimmsten Braende zu loeschen. Dann haben wir ein Problem. Das Shitrix-Desaster hat gezeigt, dass selbst fuer die Reaktion auf oeffentlich angekuendigte Sicherheitsluecken vielerorts keine Luft ist. Dass Verwaltungs-IT von Ereignissen getrieben ist, und aufgrund ihrer Besoldungsstruktur im Zweifelsfall vielerorts nur solche Leute in verantwortungsvolle Positionen bekommt, fuer die Alarmfaxe und rote Netzwerkkabel als zeitgemaesse Loesung angemessen scheint. Jetzt hier Abstriche zu machen und die offenkundig werdenden Defizite nicht als laut schreiendes Warnsignal zu verstehen, dass wir es mit dem Aequivalent zu jahrelang vermodernder Infrastruktur analog zu Bruecken zu tun haben, und als Reaktion nicht alle gebotenen Mittel aufzuwenden, den Betrieb nachhaltig zu sichern ist grob fahrlaessig. Jetzt kurzfristig einzusparen, wird sich auf Jahre hinweg raechen.

Der naechste Black Swan, ach was, das naechste Graue Rhinozeros wird kommen. Wer jetzt nicht umgehend handelt, muss sich persoenlich die Konsequenzen zuschreiben lassen. Wer jetzt nicht trotz zu erwartender knapperer Kassen nicht in Infrastruktur investiert, laesst wider besseren Wissens notwendige Bruecken in sich zusammenfallen. Bis sie nicht mehr passierbar sind. Und steht bei der naechsten kritischen Situation mit weit heruntergelassenen Hosen da. Das sollten wir alle klarstellen. Und die Verantwortung dafuer klar personell benennen.

Linkschau vom 2015-02-23

Alle S-Bahn-Stationen Berlins in der schnellsten Reihenfolge abklappern – Ich kann die Motivation hinter so einer Aktion so gut verstehen. Dauert auch nur 15h 😉

Coding is not the new literacyNoch ein Abgesang auf “Code literacy”. Aber nicht aus Prinzip, sondern aus dem verfehlten Fokus auf „coding“. Der sei naemlich analog zum mechanischen Akt des (Hand- oder Maschinen)schreibens. Tatsaechlich sei „Modellierung“ der Knackpunkt – ein Problem in seine Einzelteile zerlegen und algorithmisch loesen zu koennen. Samt Vorschlaegen fuer den didaktischen Ansatz sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen.

(via @aprica)

Utopian and Dystopian Theories of Change – A Template – ein Text von Lucy Chambers (Ex-OKF) ueber die Frage, ob Tech-Projekte tatsaechlich immer den positiven Erfolg haben, den man sich von ihnen ausmalt, und wie man ggf. dafuer sorgen oder die Rahmenbedingungen dafuer abfragen kann:

Widely-held Opinion (to which I subscribe): There is a huge amount of potential power to be unlocked in non-profits using technology in their quest for positive change in the world.

Comic Book Reference, ergo Fact: With great power comes great responsibility.

Personal Opinion: As tech projects become more and more widespread at NGOs, and their databases ever larger, we should reflect on whether impact they are likely to achieve will always be positive.

This post tackles the question: “Can we provide simple templates to help people understand whether there are any potential negative impacts of their technology project?”

Haha, Schrei nach Liebe – Ein Krautreporter-Beitrag ueber einen Aussteiger aus der Rechten Szene, der mittlerweile Anti-Gewalt-Coach ist. Teasertext:

Alex, 41, Anti-Gewalt-Coach und zur Hälfte syrischer Abstammung, war zwanzig Jahre lang eine bekannte Figur in der rechtsextremen Szene. Hier erzählt er vom Leben mit Widersprüchen, von der Suche nach Wahrheit und davon, wie die rechte Szene sich die Welt zurecht legt.

Besuch bei den Impfgegnern – Facebookfund ueber die Geschichte eines Menschen, der auf FB vorgeschlagen bekam, einer Impfkritik-Gruppe beizutreten, und das auch tat. Bewundernswert die Geduld. Interessant aber auch, mit welchen Argumentationsmustern die „Kritiker“ vorgehen. Manchmal mag man da beinahe verzweifeln:

So langsam wird mir klar: Diese Leute können Dosen nicht einschätzen (nicht die aus Blech, sondern den Plural von Dosis) und wissen offenbar teilweise nicht, was eine Dosis überhaupt ist. Die Vorstellung, dass ein bestimmter Stoff in der einen Menge gesundheitsgefährdend, in einer anderen auf eine bestimmte Weise wirksam ist und in wiederum einer anderen überhaupt keine Wirkung hat, ist ihnen fremd. In ihrer Vorstellung besteht das Fach Chemie aus zwei grossen Listen: Einer mit guten und einer mit schlechten Stoffen, wobei die schlechten auf einer Skala von “eher ungut” bis “diabolisch” sortiert sind. Die Einordnung erfolgt auf Zuruf und tendenziell anhand des Kriteriums “Natürlich” oder “Unnatürlich”. Unnatürliches ist grundsätzlich böse, Natürliches super. Für Mario ist deshalb klar: Wenn man Aluminium (böse) oder eben auch Crystal Meth (diabolisch) zu sich nimmt – egal, auf welchem Weg und in welcher Dosierung – dann ist es zu spät und Tod, bzw. Drogenkarriere sind unabwendbar. Mit diesem pharmakologischen Modell vor Augen reicht dann nachvollziehbarerweise auch die Feststellung, dass in Impfstoffen Aluminium drin ist, um genug Angst für eine generelle Ablehnung von Impfungen zu erzeugen.

The internet is full of men who hate feminism. Here’s what they’re like in person. – Vox.com begleitete einen „Maennerrechtsaktivisten“

Max was not a member of Gamergate proper. This isn’t terribly uncommon: Men’s Rights Activists exist who disdain that particular episode, if not for its virulence than for its celebration of men who prefer Dungeons and Dragons to Monday Night Football. Similarly, there are Gamergate activists who remain stubbornly committed to the idea that they are ethicists of video game journalism, wholly detached from „men“ as a generalized political class. But these vagaries — the specific grievances of Gamergate, the sort of person who self-applies „MRA“ versus the sort who prefers some other acronym — are merely symptoms of a broader male sense of victimhood. It is this victim complex I intend to tell you about, not the particular schisms between reactionaries. I am interested in the style of man who makes all such factions explicable. The kind who has in these last decades felt the theoretical foundation of his inherited supremacy begin to crumble and gone into defensive crouch, lashing out at every grain of sand that shifts beneath his feet.

(via @tante)

Number Sets – Fuer alle, die schon immer mal eine grafische Uebersicht ueber Zahlen haben wollten 😉 (Leider nicht frei lizenziert, das haette ein schoenes Titelbild gemacht)

Kulturelle Aneignung und Alltagsrassismus im Fasching: warum ich meinen Kindern keine Indianerkostüme nähe. – nachdem letztes Jahr die Kritik an Indianerkostuemen wohl vor allem bei den Eltern nicht so recht durchkam – hier eine elterngerechte Fassung.

In Folge dessen hatte ich abends an der Bar auch herumdiskutiert, warum mich etwas stoert, wenn (vorwiegend) weisse maennliche linke Dudes mit Dreadlocks herumlaufen, und ob das ueberhaupt okay sein kann. Turns out, gabs die letzten Tage auch nen Artikel fuer 😉
Die These mit der Namensherkunft via “dreadful hair” auf Sklavenschiffen scheint mir nicht belegbar zu sein (da liegen 200 Jahre zwischen), das Argument, dass der Haarstil einfach kulturell eingenommen wurde, wird davon jedoch nicht weniger gueltig.