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Anstrengungsfreier Nahverkehr – aber nur um den Preis der Anonymität

Frueher. War manchmal schon auch gut, aber nicht alles besser.

Frueher. War manchmal schon auch gut, aber nicht alles besser.

Seit ich zu studieren angefangen habe, lande ich mehrmals jährlich in irgendwelchen deutschen Städten, vor allem in Berlin –  um Freunde zu besuchen, Konferenzen und BarCamps zu besuchen, oder (wie häufig im Falle Berlins) um als Endpunkt irgendwelcher Urlaubs-(Tramp-)Reisen zu dienen. Und wann immer ich in Berlin – oder einer beliebigen anderen größeren Stadt, in der ich mehr als nur ein paar Tage verbringen werde – ankomme, werde ich mit der immer gleichen, nervigen Frage konfrontiert:

Welches Nahverkehrsticket soll ich nur kaufen?

Das klingt jetzt vielleicht ein wenig lachhaft. Und für jemand mit einem etwas weniger knapp gestrickten Budget, oder für Leute, die nicht ganz so auf Optimierung im Allgemeinen und optimalen Nahverkehr im Besonderen abfahren wie ich, ist das sicherlich auch eine lächerliche Frage. Ich halte das aktuelle Abrechnungsprinzip (nicht nur) im deutschen Nahverkehr aber für eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einem möglichst anstrengungsfreien Nahverkehr – weil man sich im Vorhinein aussuchen muss, wie häufig man den ÖPNV nutzen wird.

Exkurs: „Anstrengungsfrei“ heißt, alle mentalen oder physikalischen Barrieren beim Zugang zu öffentlichem Nahverkehr auf ein Minimum zu reduzieren. Das heißt beispielsweise eine enge Taktung (→ geringe Wartezeiten), saubere und klimatisierte Fahrzeuge, so einfache und angenehme Fahrplan- und Reiseinformationsabfragen wie irgendwie möglich, oder sogar die Minimierung empfundener (sic!) Wartezeiten, indem Echtzeit-Abfahrtsinformationen an Haltestellen bereitgestellt werden. Weitere Beispiele hierzu in der Arbeit von Katrin Dziekan.

Beispiel: Welches Ticket kaufe ich für eine Woche re:publica?

In Berlin habe ich beispielsweise zwei halbwegs sinnvolle Optionen, den dortigen (IMO hervorragenden) Nahverkehr zu benutzen. Eine Wochenkarte für die Tarifzonen AB kostet mich momentan 28,80 EUR und erlaubt mir eine unbeschränkte ÖPNV-Nutzung während dieser Zeit. Einzelfahrscheine kosten mich im Viererpack je 2,20 EUR – und ich kann übrig gebliebene Tickets immer einfach fuer den naechsten Berlinaufenthalt mitbringen (mit Vier-Fahrten-Karten Kurzstrecke lässt sich das dann noch für kürzere Fahrten supplementieren)

fahrscheine

In einer perfekten Welt wüsste ich natürlich schon vorher, wie häufig ich das Nahverkehrssystem einer Stadt verwenden werde – und für Berlin funktioniert das sogar mittlerweile halbwegs gut: Ich habe ein Gefühl für die Stadt bekommen, was mir erlaubt, grob abzuschätzen, wie häufig ich zu Fuß unterwegs sein werde und wann ich Bahn, Tram und Bus benutzen muss oder möchte. Falls ich nicht mehr als 13 Fahrten während meines Aufenthalts machen werde, komme ich mit Vier-Fahrten-Karten günstiger davon; falls ich vermutlich häufiger unterwegs sein werde, kaufe ich mir die Wochen-Umweltkarte.

Das funktioniert jedoch nur, wenn auch alles so abläuft, wie geplant. Einmal habe ich mehr Geld für Vier-Fahrten-Karten verbraten, als eine Umweltkarte gekostet hätte – bierselige Nächte sind in Berlin einfach nicht vollständig, wenn man nicht die Hälfte davon in der S- oder U-Bahn verbracht hat 😉
Andersherum geht das natürlich genauso. Vermeintlich meine Lektion gelernt habend, kaufte ich mir eine Wochenkarte – und verbrachte die Zeit hauptsächlich mit Leuten, die ebensowenig ein Problem mit langen Wanderungen durch eine Stadt hatten wie ich. Letztendlich kostete so jede tatsächlich gemachte Fahrt ganze 4,80 EUR. Nunja.

Die Idiotie dieses Systems ist seine absolute Unflexibilität, und der Grund dafür liegt in der Abrechnungsmodalität über anonyme Papierfahrscheine. Sobald ein Ticket entwertet und benutzt ist, existiert es praktisch nicht mehr: Das Geld ist ausgegeben, der Fahrschein verbraucht, die Kosten versunken. Falls ich tagsüber meine vierte Fahrt des Tages antrete, kann ich nicht einfach die drei zuvor benutzten Tickets aus der Hosentasche ziehen und sie gegen eine rabattierte Tageskarte eintauschen – die benutzten Tickets haben ja keinerlei Wert mehr.

Aus Sicht eines Verkehrsbetriebs oder -verbunds ist dieses System natürlich vollkommen nachvollziehbar und sinnvoll. Wer kann denn schliesslich beweisen, dass ich diese drei Fahrscheine nicht kurz vorher aus dem Abfalleimer eines U-Bahnhofs gezogen habe? Und selbst wenn das kein Problem wäre, bräuchte das Verkehrsunternehmen entweder passendes Equipment oder entsprechend Personal, um die Einzelfahrscheine zur Tageskarte „aufzuwerten“. Wer würde so etwas denn machen?

Naja, Transport for London zum Beispiel. Der Londoner Verkehrsverbund hat die altbekannten Papierfahrscheine zugunsten elektronischer Geldbörsen abgeschafft, und die Anonymität der Papierfahrscheine durch (maximal) Pseudonymität ersetzt.

Und aus Passagiersicht ist es das auch vollkommen wert.

Das Oyster-System von TfL

By Frank Murmann (Own work) [GFDL or CC-BY-3.0], via Wikimedia Commons

Oyster Card. By Frank Murmann (Own work) [GFDL or CC-BY-3.0], via Wikimedia Commons

Ich habe Oyster zum ersten Mal bei einem London-Trip 2007 ausprobiert, und war sofort angetan vom Konzept. Gegen ein Pfand von aktuell 5 GBP gibt es eine RFID-basierte Pay-As-You-Go Oyster Card, die dann an Automaten mit Geld aufgeladen werden kann.

Um eine Tube-Station zu betreten, wird dann die Karte an die Personenvereinzelungsanlage am Eingang gehalten, und am Ende der Reise wird auf dieselbe Art und Weise am Ausgang wieder ausgecheckt. Analog gibt es Kontaktpunkte in Bussen, oder auf Bahnsteigen „regulärer“ Eisenbahnlinien, so wie die an vielen DB-Bahnhöfen versteckten Touch and Travel-Kontaktpunkte.

[Public domain], via Wikimedia Commons

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Der meines Erachtens beste Clou des Systems ist aber nicht die Kostenersparnis durch den reduzierten Preis gegenüber klassischen Papierfahrscheinen, oder die zigtausenden Fahrscheine, die nicht gedruckt und weggeworfen werden, sondern die Fahrpreisdeckelung: Egal wie viele Fahrten an einem Tag unternommen werden, es wird niemals mehr als der Preis einer Tageskarte abgebucht werden. Das entspricht der Idee, nach der n-ten Fahrt eines Tages die bisher bezahlten Kosten von Einzelfahrscheinen auf ein Upgrade zu einem Tagesfahrschein anrechnen zu können — was natürlich nur geht, wenn nachvollzogen werden kann, dass diese Fahrscheine nicht etwa von anderen Passagieren erschnorrt oder aus dem Muell aufgelesen wurden.

Die Oyster-Karte ist dabei nicht einmal personengebunden: Genau wie eine reguläre Tageskarte übertragbar ist, kann auch die Oyster-Karte weitergegeben werden, so dass sich das Upgrade auf eine Tageskarte auch wirklich lohnt — was dann aber implizit passiert, sobald auch wirklich genügend Fahrten benutzt wurden. Die vorherige Überlegung, ob man auch wirklich die erkaufte Leistung auch ausreizt, entfällt. Eine mentale Hürde weniger!

Aber der Datenschutz!

Ja, der Datenschutz. Die Oyster-Karte ist nicht anonym, sondern maximal pseudonym: Zwar kann die Karte nur dann eindeutig an eine oder mehrere Personen gebunden werden, wenn die Aufladung per Kreditkarte erfolgt; die Speicherung vergangener Fahrten ist aber systeminhärent und kaum zu umgehen. Das reicht in Deutschland üblicherweise, um mindestens ein Unwohlsein zu verursachen; in der Regel wird die vereinte Front der Datenschützer_innen dann auch Menetekel von Totalüberwachung und gläsernen Passagieren an die Wand zu malen.

Und tatsächlich, in Cory Doctorows Jugendroman Little Brother gerät der Protagonist wegen seiner vom üblichen Muster abweichenden Mobilitätsnutzung des BART-Systems ins Visier der repressiven Regierung, gegen die er ankämpft (das Buch steht unter Creative-Commons-Lizenz, Fundstelle ist Seite 100 ff.)

Kein Wunder also, dass Versuche, die VDV-Kernapplikation als solch ein Zahlungssystem  in deutschen Verkehrsverbünden zu etablieren, auf Widerstand stoßen. „Der ueberwachte OPNV“ sei das, und impliziert wird, dass wir uns damit einer totalitären Kontrolle über unser Leben aussetzen.

Ich habe mit dieser Argumentation zwei Probleme. Erstens übersieht sie — wie so oft — die Machtfrage: Wer kann durch die bloße Verfügbarkeit von Mobilitätsdaten den Passagieren gegenüber Macht ausüben? Die Verkehrsverbünde und -unternehmen? Wohl kaum. Allenfalls einem repressiven Staat und seinen Organen billige ich das Vermögen zu solchem Handeln zu — und in dem Fall liegt das Problem im repressiven Staat begründet. Der geht aber auch von Papiertickets nicht weg.

Die Zukunft vernetzter Mobilitaet

von Julian Herzog (Eigenes Werk) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) oder CC-BY-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

von Julian Herzog • [more photography on my website] (Eigenes Werk) [GFDL oder CC-BY-3.0], via Wikimedia Commons

Zweitens lässt diese Papierfahrscheinromantik außer Acht, wie sich Mobilität in der Zukunft weiterentwickeln wird. Car2Go hatte in Ulm immerhin (ohne große Feierlichkeiten) seinen sechsten Geburtstag, und hat mit seinem von manchen Bike-Sharing-Modellen abgeschauten Free-Floating-Konzept und minutengenauer Abrechnung den Markt deutlich aufgerüttelt. Uber rüttelt noch heftiger, momentan ohne dass man vorhersagen könnte, welche mittelfristigen Folgen das für den Taximarkt hat. Und selbstfahrende Autos fahren immerhin schon als Versuchsträger durch die Ulmer Straßen.

Interessant wird vor allem werden, wie sich solche verschiedenen Verkehrsmodalitäten künftig mit klassischem ÖPNV verknüpfen lassen. Beispielsweise, indem Free-Floater, Bikesharing oder gar selbstfahrende Autos nicht etwa mit Bus und Bahn konkurrieren, sondern diese ergänzen — durch Spezialtarife nach Betriebsschluss des klassischen ÖPNV, zum Beispiel. Oder indem das klassische Ticket in das NFC-System des Smartphones integriert wird, das die Vorbestellung von Anrufsammeltaxis oder Rufbussen am Ende einer Reise in den ländlichen Bereich gleich miterledigt.

Der DING ist einer der Verbünde, die hier mit dem „Ticket2Mix“ einen bescheidenen, für Verhältnisse deutscher Verbünde aber schon beinahe revolutionären Anfang machen: Neben der regulären Monatskarte sind auch Freiminuten bei drei Carsharing-Anbietern in Ulm und Umgebung im Ticketpreis enthalten. Das entfaltet noch lange nicht das Potenzial, das in RFID-Fahrscheinen steckt, aber gibt zumindest einen winzigen Vorgeschmack auf das, was möglich wäre.

Aber eben nur, solange ein reibungsloser und attraktiver Nahverkehr und die damit verbundenen Folgen für Lebens- und Wohnqualität nicht als weniger wichtig angesehen werden, als dass er unbedingt anonym zu benutzen wäre.

Randnotiz: VDV-Kernapplikation und die in Deutschland getesteten Prototypen haben allesamt ihre Macken und Probleme, insbesondere bei der Usability. Mir geht es aber um das Grundprinzip dahinter, und den Widerstand gegen das System allein aus dem Standpunkt heraus, dass Datenschutz schwerer wiege.

Nachtrag vom 2014-10-20: Der Titel dieses Artikels endete ursprünglich mit „verhindert durch Datenschutz“. Das ist vermutlich irreführend gewesen, denn tatsächlich gibt es mit Touch und Travel ja ein vergleichbares System (wenngleich hier umgekehrt als bei Oyster aktive Endgeräte und passive Berührpunkte verwendet werden), und es gibt keine mir bekannten datenschutzrechtlichen Bestrebungen, vergleichbare Ticketingsysteme zu verbieten oder einzuschränken. Gemeint war der Artikel insbesondere als Replik auf den verlinkten Blogartikel, in dem vom überwachten Nahverkehr die Rede war, und sämtliche anderen Horrorvisionen einer komplett überwachten Gesellschaft. Der Zyniker in mir würde ein verbundübergreifendes intelligentes Ticketingsystem ohnehin zunächst an den Verbünden und dem VDV und danach an einer Vergabe an T-Systems oder Siemens scheitern sehen 😉

Linkschleuder

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Spackeria

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OpenData, OpenAccess, Visualisierungen

Spackeria et Datenschutz

Misc

Die Weltverbesserer

Wahlweise gerade mal oder schon vor einem Jahr bezeichnete Constanze Kurz alle, die sich mit Datenschutzkritik beschaeftigen, pauschal als Spackos. Einige so Benannte fanden daran gar nicht erst grossen Anstoss, nannten sich fuerderhin die datenschutzkritische Spackeria, trollten das vergangene Jahr ein wenig vor sich hin und haetten sicher gerne auch auf dem 28c3 wieder etwas zum Thema beigetragen. Post-Privacy hatte da aber offenbar thematisch keinen Platz, weswegen kurzerhand als „Ausweichkongress“ am 29.12. die 0. Spackeriade in Laufweite zum c3 auf die Beine gestellt wurde.

Durch glueckliche Zufaelle waere ich zwischen den Feiertagen ohnehin in Dresden statt Ulm gewesen (was mal eben 450 Kilometer Unterschied bedeutet) und hatte zudem sowohl eine Gastgeberin in als auch einen spottbilligen Fahrschein nach Berlin; eventuell verbliebene Argumente gegen einen Abstecher in die Hauptstadt wurden durch einen kurzen Blick auf die Teilnehmerliste atomisiert.

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tl;dr:

Es war eine der angenehmsten Veranstaltungen mit erfrischend unverbohrter Grundhaltung und hervorragender Gespraechskultur, auf der ich seit laengerem war. Und sie hat mich (weiter) nachdenklich gemacht.

Langfassung

Veranstaltungen wie diese leiden immer unter dem Problem, sowohl interessierte Neulinge als auch Fortgeschrittene im Publikum zu haben und diese Luecke auf irgendeine Weise ueberbruecken koennen zu sollen. Wenn ich meiner Gastgeberin glauben darf, hat der Einstieg auch fuer thematische Neueinsteiger ganz gut geklappt: @gedankenstuecke und @philippbayer fuehrten im ersten Vortrag in die entstehenden Problematiken genetischer Sequenzierung ein, bevor @tante noch einmal in den Gegensatz Datenschutz versus Post-Privacy einstieg.

Diese Reihung finde ich retrospektiv gar nicht so seltsam, wie sie mir live vorkam; Das Genomics-Panel umreisst sehr eindruecklich die Problematik, die uns bei konsequenter Fortspielung des Datenschutz-Paradigmas bevorstehen: Wenn ich heute fuer wenig Geld mein Genom sequenzieren lassen und dieses zum Zwecke der Wissenschaft (oder reiner Experimentierfreude) veroeffentlichen kann, ermoegliche ich damit jedermann nicht nur erbliche Krankheitsveranlagungen meiner selbst, sondern zwangslaeufig auch meiner engeren Verwandten daraus auszulesen — selbst dann, wenn ich die nach aktuellem Stand relevanten Sequenzen schwaerzen lasse, heisst das nicht, dass diese Information fuer alle Zeiten uneinsehbar sein werden.

Darum dreht sich auch ein Grossteil der Post-Privacy-Debatte: Wie weit kann die Einzelne gehen, freiwillig hoechstpersoenliche (oder auch ganz banal oeffentliche) Daten digitalisiert zu veroeffentlichen, ohne dabei andere zu beeintraechtigen — und was passiert, wenn das doch geschieht. Eine These ist, dass „die Gesellschaft“ mittelfristig gezwungen werden wuerde, groessere Toleranz gegenueber nicht der Norm entsprechenden Menschen zu ueben, und selbstverstaendlich wurde auf der spack0 auch wieder das Beispiel der Homosexuellen bemueht: Erst das Herstellen von Oeffentlichkeit habe dazu gefuehrt, dass Homosexualitaet mittlerweile enttabuisiert und „normalisiert“ sei.

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Ich wuerde mir wuenschen, hier einmal andere Beispiele zu sehen. Wenn es denn ueberhaupt welche gibt. Und ich wuensche mir eine genauere Betrachtung, ob es diese geforderte Toleranz wirklich geben kann. Ganz so weit ist das mit der Akzeptanz von Homosexualitaet wirklich nicht: Heute noch werden LGBT-Teenager von ihrem Umfeld in den Suizid getrieben. Ich fand es in diesem Zusammenhang geradezu ironisch, dass Erlehmann in seinem und @fotografionas Talk ueber Fickileaks (mehr dazu in warumnicht.so Folge 1) einer Person, die in seinem Beziehungs-Geruechte-Abbildungsgraphen nicht vorkommen wollte, fehlenden Humor unterstellte. Als sei erlehmanns eigenwilliger Humor der einzige, der hier Geltung habe.

(Helga Hansens Vortrag ueber Bullying schlaegt in eine aehnliche Kerbe — habe ich leider nur in der Aufzeichnung gesehen, weil U. und ich ganz dringend etwas essen mussten.)

@acid23 ging abschliessend noch einmal auf die sozialen Aspekte von Post-Privacy ein: Hoehere Transparenz befoerdere das Aufzeigen kultureller und sozialer Unterschiede und erleichtere somit gleichermassen Integration — das vielbeschworene Homosexuellen-Beispiel — aber eben auch Segregation. Er selbst sei immerhin noch in einer mehr oder weniger privilegierten Position: Weiss, maennlich, mit ausreichend Geld ausgestattet, nicht behindert, gebildet — und gerade wegen dieser Position vielfach ohne boese Absicht blind gegenueber oppressiven Verhaltensweisen und Strukturen.

Man kann sich relativ leicht vor Augen fuehren, wie weit diese Privilegien gehen, indem man sich einfach einmal bewusst von ihnen entfernt. Am besten irgendwo auf dem Land in Bayern. Die Fallhoehe kann augenoeffnend sein.

Eines der weniger beachteten Privilegien kann beispielsweise auch schlicht eine belastbare Psyche ohne zu verarbeitende Traumata sein, und ehrlich gesagt haette ich von Christian Bahls vom Verein Missbrauchsopfer gegen Internetsperren in diesem Punkt bei seinem Panel mehr Angriffslust erwartet. Bahls beharrte staendig auf technischem Datenschutz, zu dem ich ihm schoene Anekdoten aus einer nicht genannten Klinik erzaehlen konnte (im Video ab 39:25) — was mir bis zum Ende fehlte, waere die konkrete Schilderung gewesen, was es denn heisst, wenn jemand, der oder die in der Vergangenheit einen absoluten Kontrollverlust ueber den eigenen Koerper, die (nicht nur sexuelle) Selbstbestimmtheit und Vertrauensmechanismen erlitten hat, nun erneut mit noch nicht aufgearbeiteten oder vollstaendig therapierten Traumata konfrontiert wird.Hier einfach mit den Schultern zu zucken hiesse fuer mich, eine wirklich schutzbeduerftige Personengruppe alleine zu lassen.

Klar, „die Gesellschaft muss sich aendern“, das duerfte ohnehin das Credo der gesamten Veranstaltung gewesen sein, aber das sagt sich leicht dahin. Acid sprach von Erklaerbaerismus als Prinzip: Ungleichheiten und oppressive Strukturen wie Alltagssexismus, -rassismus, -ableismus […] nicht mehr einfach hinzunehmen, sondern sich damit (und denen, die sie meist ohne boese Absicht verbreiten) auseinanderzusetzen und aktiv dagegenzusteuern.

Ich bin gespannt. War man in Berlin noch ganz unter sich in flauschiger Atmosphaere, sieht der Alltag in der Provinz immer noch hart aus. Weltverbessern kann bisweilen immer noch so anstrengend sein wie vor 30 Jahren.

Manchmal macht’s aber auch Spass.

Kein Grund also, nicht damit anzufangen.

Ausserdem

Ploms Buch gekauft, mit Widmung und unter Umgehung von Amazon (dies ist ironischerweise ein Affiliate-Link). Festgestellt, dass man ploms Buch mit „plop“ abkuerzen kann. Ekelias getroffen. Von Ekelias befummelt worden (war ganz gut). In pornoeser Wohnung untergekommen (Danke, U.!). Generell, viele Leute erstmals live getroffen und nett gefunden. Irre Vorstellung im Kopf, in Ulm ein Fablab etablieren zu wollen. Generell: Viele irre Vorstellungen im Kopf.

 

Danke, Internet. Danke, ihr Leute darin.

Fotos von naturalismus (1,3) und mir (2,4), cc-by-sa. Dieser Text steht unter ebendieser Lizenz.

Das BMI will Input zu „Vergessen im Internet“

Nachdem „Studierende [und] Wissenschaftler“ in der Mail des Innenministeriums pauschal angesprochen waren, will ich das mal weiter streuen:

Gesucht werden im Rahmen dieses Wettbewerbs die besten Ideen zum Thema „Vergessen im Internet“. Dabei soll es um die Auseinandersetzung beispielsweise mit den folgenden Fragen gehen: Wie schaffen wir ein Bewusstsein für die Probleme, die mit dem Nicht-Vergessen im Internet zusammenhängen? Was kann der einzelne Nutzer bzw. die Gesellschaft insgesamt tun, um diesen Herausforderungen besser zu begegnen? Brauchen wir eine technische Lösung oder genügt es, den Umgang mit persönlichen Daten zu verändern? Müssen auf politischer Ebene neue Regeln definiert werden?

„Vergessen“? So wie bei der Radiergummi-Extension? Mir kommt da eher ein kleines Trollgrinsen ins Gesicht, und der Ansporn, das mal ein wenig in die andere Richtung hin zu entwickeln. Zumal es auch ein Preisgeld gibt:

Der Gestaltungsspielraum für die Wettbewerbsbeiträge ist außerordentlich groß. Es können beispielsweise Plakate, Fotocollagen, Videos, Essays, wissenschaftliche Texte, Entwürfe für technische Lösungen u.v.m. eingereicht werden.

Teilnehmen können Studierende aller Semester und Fachrichtungen sowie Wissenschaftler bzw. wissenschaftliche Institute – sowohl Einzel- als auch Gruppenarbeiten sind möglich. In den verschiedenen Kategorien gibt es für die besten Beiträge jeweils 5.000,- € zu gewinnen. Zusätzlich können im Einzelfall durch unsere Netzwerke Praktika und Stipendien vermittelt werden. Besonders geeignete Ideen können im Rahmen von Kooperationen weiterentwickelt werden. Gerade diese Möglichkeiten dürften für Studierende besonders interessant sein.

Aluhuete und Spackos: Los geht’s. Der Wettbewerb laeuft noch bis 31. August.

(Hervorhebungen wie im Original)

Warum die Oma virtuellen Datenstriptease macht

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Ich sitze gerade im Zug nach Berlin und fuehle mich einem Zustand der vollkommenen Verbloedung, was sicherlich nicht zuletzt an Schlafmangel liegt, moechte aber trotzdem noch etwas loswerden, und dazu hat man ja ein Blog, nicht wahr?

Ich hatte in letzter Zeit relativ viel Kontakt mit Datenschuetzern der alten Schule. Ich weiss nicht, ob es eine alte Schule fuer Datenschuetzer gibt, aber ich nenne das jetzt einfach mal so: Leute, die wirklich fit sind, was die rechtlichen Rahmenbedingungen des Datenschutzes angeht. Die teilweise Datenschutzbeauftragte fuer Firmen sind oder waren. Und die noch irgendwo in den 1990ern haengen.

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Das klingt jetzt vermutlich haerter, als es gemeint ist, und es ist definitiv nicht als „Datenschuetzer sind sowas von nineties (lacht)“ gedacht. Ich bin mir sicher, dass die betreffenden Personen einen aktuellen Kalender fuehren, und auch problemlos aufsagen koennten, wer gerade Innenminister ist, oder so etwas in der Art. Aber dann kommen immer wieder die Kommentare, die sich ziemlich aehneln: Warum soziale Netzwerke, wenn es doch Usenet/IRC/[insert RfC-konforme Technologie here] gebe. Und, was ich eigentlich noch viel schlimmer finde: Die unterschwellige Aussage, wie dumm doch die Leute sind, die Twitter/facebook/sonstwas nutzen. Selber wuerde einem ja nie einfallen, einen „Seelenstriptease“ hinzulegen, und was solle das denn ueberhaupt, der Welt zu erzaehlen, dass man gerade ein Nutellabrot esse…

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Mich hat das anfangs einfach nur geaergert. Fuer mich fuehlte sich das so an, als haetten sich die Betreffenden irgendwann in den fruehen 1990ern einfach einen Schnappschuss der fuer sie stabil laufenden Techniken herausgesucht, diesen eingefroren und ab dem Zeitpunkt nicht mehr nennenswert veraendern wollen. Die Debians unter den Menschen, oder so aehnlich. Ich fand das irritierend, mass dem aber keine weitere Bedeutung mehr bei.

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Irgendwann kam dann die Spackeria, und mit dem oeffentlichen Bekenntnis, dass man deren Thesen jetzt nicht rundweg ablehne, vielen Dank, und vielleicht koenne man ja mal darueber nachdenken, kamen noch mehr Datenschuetzer. „Seelenstriptease“, wieder dieses Wort, und wieder die implizite Unterstellung, dass doch eigentlich jeder ein Trottel sei, der diese sozialen Dingse nutze.

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Nur hatte ich im Februar einige Erfahrungen gemacht, die mir eine etwas andere Sicht auf diese sozialen Netzwerke gegeben haben. Ich hatte zusammen mit zwei KommilitonInnen ein Seminar des Zentrums fuer allgemeine wissenschaftliche Weiterbildung (ZaWiW) der uulm betreut, in dessen Rahmen wir drei Tage lang im „Haus auf der Alb“ der Landeszentrale fuer politische Bildung eine Gruppe SeniorInnen begleiteten.

Jetzt kann man natuerlich fragen, was Senioren mit sozialen Netzwerken zu tun haben sollen. Genauer gesagt war genau das unsere Aufgabe: Unter anderem fuer die Wikimedia Foundation war das Ziel, die Senioren in Gruppen- und Gemeinschaftsarbeiten herauszuarbeiten lassen, welche Bedeutung dieses Thema fuer sie hat, was es ihnen bringt, wo Aengste und Risiken liegen, und so weiter.

Gruppenarbeit "Soziale Netze"

Die Ergebnisse waren in mehrerlei Hinsicht fuer mich als stillem Protokollanten und Beobachter hochspannend. Erstens maeanderten die Gruppenarbeiten oft erst eine Weile vor sich hin, liefen aber jedes Mal frueher oder spaeter auf Schlussfolgerungen hinaus, die ich selbst schon als Beobachtungshinweis notiert oder fuer mich selbst als interessante Feststellung gesehen hatte. Und ausserdem fand ich horizonterweiternd, wie unterschiedlich die Herangehensweise der Senioren an das Erlernen des Umgangs mit neuer Technik im Alter ist. In vielem habe ich meine Eltern wiedererkannt, oder besser gesagt Probleme beim Erklaeren von Ablaeufen, die mich bisweilen beinahe in den Wahnsinn getrieben hatten.

Was wollen "Aeltere" im Netz?

Die Bandbreite war gross; manche hatten schon selbst einen Facebook-Account, andere hatten sich einen Workflow fuer alle Lebenslagen rund um E-Mail geschaffen, alle schienen von meiner spontan improvisierten abendlichen Twitterlesung gut unterhalten.

Aber ein Thema klang immer wieder durch und beschaeftigt mich bis heute. Das war in verschiedene Begriffe verpackt, teilweise umschrieben, aber doch landete es immer wieder auf den Wandzeitungen oder meinen Beobachtungsboegen: „Vereinsamung“. Eine Teilnehmerin beschrieb ihren Netzzugang mitsamt aller von ihr genutzter Anwendungen als „Fenster zur Welt, das vermisst werden wuerde, wenn es nicht mehr da waere“.

Der unabwendbare Teilnehmerfragebogen

Man kann jetzt als profan abtun, wenn die Seniorin auf feierabend.com einen Strickzirkel findet und vormals wildfremde zum Kaffeekraenzchen zu sich einlaedt. Man kann die Gesellschaft beklagen, in der das ueberhaupt notwendig sein sollte, dass man sich womoeglich sozialer Netze bedienen muss, um nicht „zwangslaeufig“ zu vereinsamen. (Und man kann auch in ganz viele Metadiskussionen einsteigen, dass das alles ganz anders ist, und die Schlussfolgerungen total ungueltig, und das alles vollkommen hanebuechen. Worauf ich nur sagen kann: Japp, kann sein, aber mir fallen gerade auch einfach die Augen zu. Eine Ausrede ist also vorhanden).

All das kann man also machen. Was man mir gegenueber seit diesem Seminar aber nicht mehr machen kann, ist die Teilnahme an sozialen Netzwerken pauschal als dummen Unsinn, unverantwortlichen Seelenstriptease oder unsinnige Freizeitbeschaeftigung fuer Jugendliche abzutun.

Das wollte ich nur mal gesagt haben.

Privatsphaere ist keine reine Datenfrage

xkcd: Facebook (cc-by Randall Munroe)

xkcd: Facebook (cc-by Randall Munroe)

Wer auf WG-Suche ist, der facebookt Leute. So ist das heutzutage. Gleich vier meiner KollegInnen waren die letzten Wochen auf der Suche nach einer neuen Bleibe, und irgendwie bin ich dann auch mit MonSi auf die Facebook-Angelegenheit gekommen. Erste Schlussfolgerung: Wer ein weitgehend nicht-oeffentliches Profil dort hat — wird uninteressant. Weitere Idee war dann, einmal zu evaluieren zu versuchen, mit welchen Profilinhalten man die besten Chancen auf Akzeptanz bei potenziellen neuen Mitbewohnern hat.

MonSis Gegenargument war aber gleichermassen bestechend wie simpel: Er hat auf seinem Profil das abgebildet, was er fuer eine halbwegs akkurate Repraesentation seiner selbst haelt — wuerde er sich irgendwie virtuell mainstreamen, haette er vielleicht bessere Chancen auf eine WG, aber mit dem Risiko, nicht die passende zu finden.

Das ist natuerlich ein gefundenes Fressen fuer Datenschutzideologen. Am besten gar nicht erst bei Facebook angemeldet sein, hoert man von denen, keine Daten anvertrauen, und vor allem nicht veroeffentlichen. Aber ist das so? @fasel hat mich heute auf einen Artikel bei The Gay Bar gestossen, der die Privatsphaerendebatte einmal von der Datenfrage zu loesen versucht. Der Tenor bei den Schreckensvisionen laeuft ja oft auf die Nummer mit den Besoffenenbildern hinaus, die einem dann $irgendwann auf $schrecklicheWeise $irgendwo schaden koennen. Die Konsequenz fuer die Datenschuetzer: Solche Bilder fuer sich bewahren und niemals nie verbreiten. Was aber heisst das?

Traditional privacy people tell him to keep the picture secret because he might make a bad impression on future or current employers. Secrecy ensures that society or certain social entities will not punish him for his behavior. Is that really what we care about?

Isn’t it true that his interest is just to live his life exactly the way he wants to live it? Maybe he wants to go out drinking every once in a while, maybe he also has weird political ideas that mainstream society does not want to accept or his sexuality is not what the mainstream likes. The point is that his ultimate goal is not about who knows what about him, his goal is just to be happy and be the person he wants to be.

Und dann sitze ich da als Spackeria-Interessierter und muss mir von einem extrem auf die Datensicherheit seiner IT-Systeme fixierten Kollegen erklaeren lassen, dass er sein Facebook-Profil mit genau seiner Lieblingsmusik und genau seinen Lieblingsfilmen auch fuer Nicht-Freunde so einsehbar hat, damit er beispielsweise auch gerade an die WG geraet, in die er passt.

Und dann ergibt dieses diffuse Spackeria-Konzept, das man sowieso nicht klar fassen kann, auf einmal auch einen Sinn: Aspekte seiner digitalen Repraesentation nicht geheim halten zu muessen, weil man auch keine Verfolgung oder Ausgrenzung ihretwegen fuerchten muss — das ist Freiheit.