Archiv der Kategorie: Geschichten aus dem Nahverkehr

Fahrplandaten, Zwischenstand 2020

Seit September 2006 gibt es das GTFS-Format fuer Soll-Fahrplandaten des oeffentlichen Verkehrs, entstanden mehr als Zufalls-Seitenprojekt aus einer Kooperation zwischen einem Google-Maps-Entwickler und dem Portlander Verkehrsverbund. Gedacht war es als Standard-Austauschformat, um Fahrplandaten in verschiedene beliebige Verkehrsauskuenfte zu integrieren – auch Google Maps, aber eben auch viele andere Anwendungen.

In Deutschland dauerte es sehr lange, bis GTFS oder das sehr viel umfangreichere NeTEx-Format halbwegs breit als Grundlage fuer Open-Data-Fahrplaene angeboten wurde. Deutsche Verkehrsverbuende sind vielfach bis heute der Ueberzeugung, dass nur sie selbst „richtige“ Auskuenfte geben koennen. Das wuerde ich generell sowieso in Frage stellen, aber das ist gaengige Policy, und auch in der VDV-Schrift 7030 „Open Service“ in eine wirklich haarstraeubende Sammlung zurschaugestellter Ahnungslosigkeit und Falschdarstellungen zusammengefasst. Teile der Geschichte dazu lassen sich in meiner Diplomarbeit von 2014 (sic) nachlesen.

Sehr sehr langsam tat sich aber etwas in Deutschland – auch weil Anfang Dezember 2019 die Delegierte Verordnung (EU) 1926/2017 die Auslieferung aller(!) Soll-Fahrplandaten ueber einen Nationalen Accesspoint zur Pflicht machte. Die Verbuende, die sich lange Zeit wehrten, mussten also nun ihre Fahrplaene offenlegen, auch zur Nachnutzung durch Dritte. Die Open-Data-Landkarte, auf der 2013 nur der VBB und die vergleichsweise winzigen Stadtwerke Ulm zu finden waren, faerbte sich nach und nach:

Wenn auch viel zu spaet und sehr schleppend und weit entfernt von den skandinavischen Best-Practise-Beispielen, die hier meilenweit voraus sind: Es tat sich was.

Das schien nun also der Anlass fuer diverse Diensteanbieter zu sein, nun auch die notorisch verspaeteten deutschen Verbuende in ihre Auskuenfte einzubinden. So auch Apple Maps, die offenbar nun einige Regionen mehr in ihre Auskunft aufnahmen – was zu diesem denkwuerdigen Artikel auf nordbayern.de fuehrte, der einem nochmal plakativ vor Augen fuehrt, auf welchem unterirdischen Niveau wir 2020 noch ueber intermodale Verkehrsauskuenfte reden. Beste Zitate:

Die Daten stammen, so behauptet es Apple in der App, von der Verkehrs-Aktiengesellschaft Nürnberg (VAG) und dem Verkehrsverbund Großraum Nürnberg (VGN). Dort allerdings wundert man sich. „Es gibt keine vertragliche Vereinbarung (…) zu einer Überlassung von Fahrplandaten“, sagt VGN-Sprecher Manfred Rupp. „Wir wissen auch nicht, woher Apple die Fahrplandaten zu den VGN-Linien hat.“ Man könne, sagt Rupp, nur spekulieren – und sei dabei, die technischen Vorgänge aufzuarbeiten.

Das ist wirklich bemerkenswert, denn auf der Website des VGN selber findet sich ein Punkt „Soll-Fahrplaene im GTFS-Format“, und ueber den Standardvertrag der Creative-Commons-Lizenz ist auch die vertragliche Ueberlassung von Fahrplandaten ganz klar geregelt (Ueberlegungen, ob es sich bei Fahrplandaten ueberhaupt um ein urheberrechtlich geschuetztes Werk handelt, auf das auf dem UrhG basierende Lizenzen anzuwenden sein koennen, seien mal aussen vor gelassen).

Im weiteren Text wird zunaechst behauptet, Apple erwecke den Eindruck, dass es sich um Echtzeitdaten (also unter Einberechnung von Verspaetungen) handle. „Das könne aber gar nicht sein […] Die liegen nicht einmal mehr auf unseren Servern“ wird der VGN zitiert. Einen Absatz weiter wird jedoch zurueckgerudert, dass es sich um „aeltere“ Soll-Fahrplandaten unklaren Alters handelt.

Diese Reaktion ist fuer mich wirklich erschreckend. Ziel des VGN muesste es sein, eine stabile Quelle tagesaktueller Soll-Fahrplaene bereitzustellen. Sollte Apple wirklich den GTFS-Feed des VGN vom Dezember 2019 benutzen und dieser nicht aktuell sein, liegt das Problem glasklar auf Seiten des Verbunds. Er hat dafuer zu sorgen, dass Dritte Daten in guter Qualitaet nutzen koennen – spaetestens seit der Delegierten Verordnung. Und die vielfach als Argument angefuehrten Echtzeit-Ist-Daten sind vielmehr ein gewichtiges Argument, spaetestens jetzt die Vorbereitungen zu treffen, auch diese Daten fuer Dritte nutzbar ausspielen zu koennen. Denn Echtzeit und Open Data schliessen sich nicht aus – wenn man denn wie die Skandinavier auf die richtigen Formate setzt, anstatt dem VDV-Unsinn rund um den sogenannten „Open Service“ nachzulaufen.

Die Uhr tickt indes. Spaetestens im Dezember 2023 ist die Ausspielung der dynamischen (Echtzeit) Daten gemaess DV 1926/2017 EU-weit gefordert und nicht mehr nur optional. Ich bin gespannt, ob die deutschen Verbuende das auch so grandios verkacken werden wie bei den Soll-Daten.

PS: Wer Lobbyarbeit machen moechte: Die Karte oben stammt aus dem 2017 als Spassprojekt gestarteten One-Click-Lobby-Projekt rettedeinennahverkehr.de – dort kannst du dich mit wenig Aufwand an deinE LandraetIn oder OberbuergermeisterIn wenden.

Langsam laeufts an

Seit eineinhalb Wochen gibt es nun offiziell die Soll-Fahrplandaten von den Stadtwerken unter freier Lizenz, und langsam faengt auch die Adaption und Integration in anderer Leute Werkzeuge an. Stefan Wehrmeyer hatte ja noch am Abend des VBB-EntwicklerInnen-Nachtreffens den Datensatz beantragt und Mapnificent entsprechend erweitert; mittlerweile hat auch Knut aus Berlin sein Werkzeug umgebaut, mit dem er die Haltepunkte aus dem GTFS-Feed mit den Haltepunkten in der OpenStreetMap vergleicht. Damit einhergehend kam auch gleich der erste Bug Report zum Feed, den ich heute mittag auch gleich loesen koennte — der bisherige Transformationswerkzeugkasten ist ein wenig codierungsagnostisch, so dass versehentlich UTF-8-codierte Zeichen in ASCII-Textdateien landeten.

Ein weiteres kleines Werkzeug habe ich aus der Ergebnispraesentation des VBB-EntwicklerInnen-Nachtreffens mitgenommen, das auch schnell auf Ulm adaptiert war: Analog zu Mapnificent eine Erreichbarkeitskarte, die Kreise mit waehlbarem Radius um Haltepunkte zeichnet und so anzeigt, wie „erreichbar“ der Nahverkehr in der Stadt ist. 800 Meter (der vorgegebene Wert aus Berlin) umfassen gleich quasi ganz Ulm, interessanter waere da die Abbildung des ganzen DING-Verbunds — die Daten hab ich zwar schon lange, aber leider nicht unter freier Lizenz 😉

Ein weiterer Kritikpunkt sowohl von Mapnificent als auch dieser Erreichbarkeitskarte ist ihre… begrenzte Aussagefaehigkeit (um den Begriff „Unsinnigkeit“ zu vermeiden :D). Konzentrische Kreise bilden quasi nie die Gehdistanz von/zu einem Haltepunkt ab. In einer typischen US-amerikanischen Planstadt waeren Rauten passender, in typischen europaeischen Staedten sieht es meist von Haltepunkt zu Haltepunkt anders aus. Hier mal eine Karte mit tatsaechlichem Fussgang-Routing zu bauen, das waer mal was 😉

Schei� Encoding!

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Selber faellt einem das vermutlich kaum mehr auf, aber Ortsfremde sind immer wieder belustigt, wenn sie in den RBA-Bussen sitzen und die etwas eigenwillige Haltestellenanzeige begutachten. Der handgemalte Bus, und dass weder folgende Halte noch die Zeit bis zum Eintreffen angezeigt werden (koennen) — geschenkt. Viel auffaelliger ist die Implementierung von Umlauten und scharfem S.

Ich hatte die RBA bzw. NeUBus auch tatsaechlich per E-Mail gefragt, warum sie denn auf ihren DFI-Monitoren nicht die Ersetzungen vornehmen, die durch den 7-Bit-Zeichensatz der IBIS-Bordrechner notwendig werden — „{“ bezeichnet in den IBIS-Datentelegrammen ein kleines „ä“, „~“ ein „ß“, und so weiter.

Bislang kam keine Antwort. Vielleicht klappt’s ja bis naechstes Jahr. Dann wird der zugehoerige Standard 30 Jahre alt.

Apps and the City

Der erste „Apps and the City“-Hackday lockte ueber 100 EntwicklerInnen in den Supermarkt Berlin — mit einigem Medienecho im Deutschlandfunk (direkt zur MP3) und in der RBB-Abendschau (Direktlink).

Praktischer Nahverkehr auf Basis offener Daten scheint also doch oeffentliches Interesse zu erregen 🙂

(zugehoeriger Blogeintrag bei der OKFN / verwandt: Sieben scheinbare Gruende gegen offene Daten)

Bleisatz und Untergrundparty

Letztes Jahr hatte ich die Schnauze von der Ulmer Kulturnacht ziemlich voll. Wlada war zu Besuch und wir hatten es geschafft, fast ausschliesslich „Kunst“ auf niedrigstem Niveau zu besuchen. Teilweise hatte das Kerkelingsche Zuege, wenn eine Autorin grottenschlechte Prosa vortrug, und das Publikum sichtbar pflichtergriffen war, weil das ja Kunst sein musste. Stand ja im Programm. HURZ!

Ich bin immer noch nicht wieder ganz warm mit der Kulturnacht — auch 2011 bekommt man immer noch keine benutzbare Website hin, und die Regeln fuer Veranstalter haben einige Aktionskuenstler in meinem Bekanntenkreis davon abgehalten, selbst teilzunehmen. Wurscht: Dieses Jahr bin ic hnaemlich bei drei wunderbaren Sachen gelandet.

Die Autos aus Langenau hatten eine der alten Ulmer GT4-Strassenbahnen fuer sich, in der sie batterieverstaerkt Livemusik spielten und (leicht unterstuetzt von der huepfenden Mitfahrbesatzung) pro Rundfahrt fuenf Kisten Bier leerten.

Mit bunten Lichtern an der Decke. Und geiler Atmosphaere. Ich will sowas oefter haben! Gerne auch mal einen Poetry Slam, oder ein Wohnzimmerkonzert einer schicken Band, die sonst im Sauschdall spielen wuerde… warum eigentlich nicht?

Zweiter Stopp war in der Pionierkaserne, wo ich endlich einmal die dortige Druckwerkstatt besichtigen konnte. Ich bin verliebt. Die haben dort Heidelberger Tiegel, koennen Lithographieren und haben zig Setzkaesten voller Bleilettern — auch in meiner Lieblingsschrift <3

Man sagte mir, dass man dort auch gerne mal Plakate drucken koennte. Reizt mich schon irgendwie, noch einmal ein Plakat fuer eine Uniparty aufzulegen… im klassischen Bleisatz auf einem Tiegel… rawr 🙂

Zum Abschluss waren wir dann wieder mal in einem Luftschutzraum. Dieses Mal der Haus-LSR eines WG-Hauses, der zum Partykeller umgemodelt wurde und nun eben auch zur Kulturnacht offen hatte. Das ist der sagenumwobene Keller, in dem immer mal wieder Goa-Partys stattfanden, fuer die man eben „Leute kennen musste“, oder eben zum richtigen Zeitpunkt an der Tuer vorbeikommen und eingeladen werden. Dort treiben sich mittlerweile zu meiner Belustigung auch ganz viele Leute aus meinem Heimatdorf herum, von denen die meisten irgendwie nach Berlin migriert waren oder so aehnlich.

Ich fuer meinen Teil bin mit der Kulturnacht wieder ein wenig versoehnt. Das fuehlte sich naemlich ganz vernuenftig nach Berlin an, an dem Abend.

Jetzt sollte das nur mal oefter so sein…

Verkehrsverbunderkundung: Flohmarkt in Riedlingen

Irgendwann letzten Herbst, als Mareyle, MonSi und ich fahrgasterhebend im DING-Gebiet unterwegs waren, kam uns mal die Idee, uns doch mal Fahrziele im Verkehrsverbund auszusuchen, die man mit dem Semesterfahrschein besuchen koennte.

Das allein heisst nicht viel: Wir denken uns ziemlich oft irgendwelches Zeug aus, von dem dann in der Regel nur ein Bruchteil in die Tat umgesetzt wird, und dann lamentieren wir rum und Mary schimpft unsere Traegheit. Und um dem entgegenzuwirken, hatte MonSi einen guten Einfall:

Ein Tag auf dem Riedlinger Flohmarkt

Riedlingen. 10.000 Einwohner, Landkreis Biberach, suedoestlich von Ulm, innert einer Stunde mit dem IRE von Ulm zu erreichen, DING-Gebiet. Mehr muss man nicht wissen, sagt MonSi, ausser dass es jedes Jahr am dritten Samstag im Mai dort einen Flohmarkt in der Altstadt hat. Und das ist dann nicht so ein Bemberlesflohmarkt mit zehn Kindern, die ihre Comics auf dem Kirchenplatz verkaufen, sondern es ist tatsaechlich die gesamte Altstadt mit Flohmarkt gefuellt. Das sah ja mal gar nicht schlecht aus.

Ich mag Flohmaerkte ziemlich gern, und das liegt nur teilweise daran, dass man dort sinnloses Geraffel kaufen kann, das dann unnuetz im Keller herumsteht. Handeln zu koennen und die Aussicht, vielleicht den einen oder anderen Schatz zu einem Spottpreis zu finden, das macht fuer mich den Reiz aus, und ich wurde auch nicht enttaeuscht. Auch in Riedlingen gibt es rein professionelle Haendler — die halten sich aber gefuehlt die Waage mit privaten Staenden und Vereinen, die die ausgeraeumten Dachboeden ihrer Mitglieder fuer einen guten Zweck verscherbeln. Man kann dann mit den schon ziemlich sekt-seligen KLJB-Standverkaeufern noch das Schachern anfangen — wenn sie einem aber eine prima erhaltene Feuerhand 276 fuer 1,85 EUR anbieten, wird nicht mehr gehandelt, sondern der Geldbeutel gezueckt 😉

MonSi hat uns dann in eine Tradition aus seiner Jugend eingefuehrt: Wir erhandelten uns an verschiedenen Staenden moeglichst guenstige Bierkruege, die wir dann an einem der Bierwaegen ausspuelen und mit Russ fuellen liessen. Diese Strategie hat den Vorteil, dass man beim Umherschlendern immer ein kuehles Bier dabei hat, ohne sich ueber die Pfandrueckgabe Gedanken zu machen — beim naechsten Stand wird einfach nachgeschenkt. Unklugerweise hatte ich mir einen schoenen Steinzeug-Masskrug der Bergbrauerei fuer 2 EUR geschossen, waehrend die anderen nur Halbe tranken. Kurz gesagt: Gegen 1400 Uhr hatte ich eine ordentliche Brez’n im Gesicht.

Das mit der Brez’n war aber kein Problem. Eine stattliche Zahl der Standverkaeufer hatte nicht nur schicke Zylinder auf dem Kopf, sondern auch schon morgens die eine oder andere Halbe in der Blutbahn. Und damit ich mit meiner an die Tasche geklipste Feuerhand (also: Taschenlampe) und der zweiten von MonSi ausgehandelten Sonnenbrille und meinem Masskrug nicht allzu arg auffiel, hat sich Dodo kurzerhand eine Handballenhupe und einen massiven Sombrero gekauft, die waehrend des restlichen Tages reichlich zu benutzen bzw. tragen offenbar Ehrensache war. Das mag dann mit 17 EUR vielleicht kein so ein Schnaeppchen wie JuKas 4-EUR-Bialettikaennchen oder Marys antike Handkaffeemuehle gewesen sein, aber man kann damit Autofahrer anhupen:

„Die Autofahrer schauen alle so grimmig, aber wenn ich sie anhupe, dann lachen immer alle“

„Dodo, du hast einen komischen Hut auf und eine Hupe in der Hand. Die lachen ueber dich.“

„Egal. Die lachen, und das macht mich gluecklich.“

Aus irgendeinem Grund holte ich mir dann noch einen passenden Berg-Halbe-Keferloher und liess Dodo zielsicher den mit Abstand geschmacklosesten Krug fuer sich aussuchen, so dass wir dann am Donauinsel“strand“ das zwischendurch geholte Bier aus jedem denkbaren Gefaess trinken konnten.

Fazit: Ich will da wieder hin. Naechstes Jahr.

Unsere Reise ans Ende des Jahres

Man nehme rund 300 Leute, jeder davon mit einem blauen Armband versehen, die fuenf Checkpoints in einer Grossstadt anlaufen muessen, ohne von den Faengern mit dem roten Armband gefangen zu werden. Wer gefangen wurde, soll selber so viele Laeufer wie moeglich erwischen und sie daran hindern, alle Checkpunkte vor 2200 Uhr zu erreichen, bevor es zur Neujahrsparty geht. Fertig ist die Journey to the End of the Year

Im Mai hatte ich zum ersten Mal von den Journeys to the End of the Night in San Francisco gehoert und wollte so etwas unbedingt in Ulm haben. Zur Silvester-KIF gab es nun die erste Gelegenheit, selber einmal an einer Journey teilzunehmen, um ein Gefuehl fuer das Spiel zu bekommen. Was muss so eine Reise haben, um Spass zu machen? Wie genau funktioniert das? Und vor allem: Funktioniert es ueberhaupt, einfach so etwas zu planen und dann fuer 1900 Uhr alle Interessierten zu einem bestimmten Ort einzuladen?

Ja, und wie das klappt. Wir (auf dem oberen Bild in der Mitte oben vor dem komischen grauen Ding zu sehen) waren wohl acht von weit ueber 100 Laeufern, die angetreten waren, um durch die Stadt zu rennen. Und wenn es am Anfang auch nur wenige vorab bestimmte Chaser waren, die uns alle fangen sollten, war jede Strasse erst einmal eine Gefahrenquelle: Solange drei auf die Karte schauten, suchten die anderen die Umgebung nach verraeterischen roten Armbaendern ab.


Um es gleich vorwegzunehmen: Sich in der Stadt auszukennen und vor allem zu wissen, wie der Nahverkehr funktioniert, hilft ungemein. Insgesamt haben wir wohl deutlich ueber 20 Kilometer zurueckgelegt, wovon aber gut die Haelfte tatsaechlich zu Fuss stattfanden. Demnach fielen wir auch von Checkpoint von Checkpoint immer weiter zurueck.

Ah ja, die Checkpoints. Von einem „Geheimtreffen von Superhelden“ bis zur „Treppe der Narren“ reichten die Tipps, anhand derer man den genauen Ort innerhalb der sicheren Zonen um die Checkpoints finden sollte. Da musste man schon mal eben sein Werkzeug zur Rettung der Welt aus Knete modellieren (Flair, Checkpunkt 1), die neuesten Modetrends herausbekommen (Albertina, Checkpunkt 4) oder einfach nur einen Punsch trinken (Uni Wien, Checkpunkt 2). Waehrend die Kinder sich dann hauptsaechlich dazu verleiten liessen, fuer die Kamera zu rennen (siehe oben), packte Juliane, Dodo, Herrn Kittler und mich irgendwann der Ehrgeiz, und wir wollten tatsaechlich auch im Ziel ankommen.

Stellensweise hatte es auch etwas unwirkliches: Man laeuft in der Gruppe durch ein Wien, das vor Menschen wimmelt — von denen aber jeder ein Gegner sein kann, bis man sich sicher ist, dass er auch kein rotes Band am Arm hat. Das Gefuehl aus Kindertagen, als geheimer Geheimagent inmitten unwissender Zivilisten unterwegs zu sein? Check. Sich in Gassen druecken, um die Ecke spitzeln und jeden Schatten kritisch ansehen? Check. Leichte Paranoia? Check 😀

Unser groesster Gegner war aber nach wie vor die Zeit: Wir waren immer weiter im Verzug, und je mehr andere schon erwischt worden waren, desto mehr Chaser wuerden uns am vorletzten Ziel ins Gehege kommen. Und tatsaechlich warteten sie auch gleich am (noch nicht in der sicheren Zone liegenden) U-Bahnhof, wo wir gleich mal Dodo verloren. Ein Spurt ueber den Bahnsteig zur anderen Seite, zwei weitere Chaser, Herr Kittler und ich geben Fersengeld in die vermeintliche Safezone — werden aber immer weiter verfolgt. Wir schlagen Haken, werden beinahe von einem Taxi ueberfahren, ich kann vor lauter Erkaeltungshusten kaum mehr laufen und druecke mich in einen Hauseingang. Zwei zitternde Minuten spaeter im viel zu hellen Eingang und ein Check mit dem GPS zeigen: Die Verfolger haben die Jagd aufgegeben, und wir sind pruegelbreit direkt von der Safezone weggelaufen.


Journey to the End of the Year auf einer größeren Karte anzeigen

Eine Strasse weiter treffe ich den Kittler wieder und erfahre, dass es auch Juliane erwischt hat und ueberall vor Chasern wimmelt. Ueber Umwege schleichen wir uns in die sichere Zone und sind gegen 2300 Uhr die letzten, die noch eine Unterschrift des vorletzten Checkpoints auf dem Journeyplan erhalten, bevor der Checkpoint schliesst. Unser Beschluss, den relativ kurzen Weg zwischen den beiden letzten Safezones weit zu umgehen, machte uns letztlich zu den einzigen aus unserer Gruppe, die alle Checkpunkte abgeklappert hatte, ohne gefangen zu werden — aber eben erst um 2330 im Ziel waren. Nach der Siegerehrung.

Aber gut. Wir wissen jetzt wie’s geht — vielleicht gibts dann bald auch mal eine Journey in Ulm. Kontakt zu den Wiener Orgas habe ich jedenfalls schon mal aufgenommen.

PS: Das Wiener Neujahrsfeuerwerk vom Dach des TU-Freihauses zu sehen, ist kapital. Das hat dann doch noch gerade so geklappt.

(Fotos [1,2] mit freundlicher Genehmigung von Christian Leitner // komplettes Set auf flickr)

Paranoia-Erzeugung fuer Einsteiger

Ungenehmigtes Mailzitat:

Ich habe soeben eine mittlschwere Massenpanik im RE Kempten-Ulm durch die Information, der herrenlose Rucksack im letzten Abteil gehöre mir, gerade noch abwenden können.

Und habe auch prompt eine Standpauke vom Schaffner kassiert, die mit den bedeutungsschwangeren Worten abschloss: „Sie wissen ja warum…!“

[…]

Also an alle, die es sich noch überlegen: Beim Bombenkoffer abstellen einfach dem Schaffner Bescheid sagen, dann muss er sich keine Gedanken mehr darum machen 🙂

Verwandt: BKA warnt vor Hysterie und Panikmache.

Gletscherprise

Ulm Hauptbahnhof, Gleis 8. Eigentlich sollte in drei Minuten die Regionalbahn nach Memmingen hier abfahren, stattdessen steht ein Dieseltriebwagen nach Biberach am Gleis.

Auf der Bank ein aelterer Mann mit einem Bollen Schnupftabak auf dem Handruecken. Stoffhose, braune Lederschuhe und Adidas-Jacke, neben ihm eine Herrenhandtasche und ein Gehstock abgelegt. Kritischer Blick zur Abfahrtstafel, auf der in voelliger Ignoranz der aktuellen Uhrzeit ebenfalls die Biberacher RB mit Abfahrtszeit vor zehn Minuten angezeigt wird. Sein Gesicht wird noch verdriesslicher, waehrend er noch etwas mehr Gletscherprise auf seinen Handruecken klopft.

Ein zweiterer aelterer Herr neben dem Treppenabgang bemerkt den missmutigen Gesichtsausdruck und erklaert, dass man da wohl noch auf einen Fernverkehrszug warte, und die RB nach Memmingen sicher bereitgestellt werden wuerde, sobald der Biberacher Zug weg ist. Er kennt sich offenbar aus im Bahnverkehr und hat sogar schon die Doppelgarnitur VT650 mit Zugziel Memmingen auf einem Nebengleis entdeckt, die nur darauf wartet, dass Gleis 8 frei wird.

Der Schnupfer zieht eine Grimasse, klopft auf seine Gletscherprisendose, sieht noch einmal kritisch zur Abfahrtstafel und knurrt: „Wenn erscht amol die Schduddgart-Oisazwanzig-Schdrecke baut isch. Na lauft des.“, bevor er sich den Tabak in das Nasenloch schiebt. Der erfahrene Bahnfahrer klappt den Mund zweimal auf und zu, haelt dann kurz inne und spart sich einen Kommentar.

Der Biberacher Zug faehrt ab. Durchsage: Lassen Sie ihr Gepaeck nicht unbeaufsichtigt.